Projekt "Save" in Sendling:Hallo, benötigen Sie Unterstützung?

Anna Kunkel, Streetworkerin für Senioren

Zweimal in der Woche ist Anna Kunkel in Sendling unterwegs. Am Harras trifft sie auf Wolfgang Renger und unterhält sich mit ihm.

(Foto: Florian Peljak)

Streetworkerin Anna Kunkel spricht hilfsbedürftig wirkende Senioren auf der Straße an. Auf diese Weise sollen auch Menschen erreicht werden, die keine Einrichtungen besuchen, aber in Notlagen stecken.

Von Sven Loerzer

Ein Brunnen, ein paar Bäume, einige Bänke, aber alles andere als ein heimeliger Platz. Der Autoverkehr gibt keine Ruhe. Und doch eilen Menschen nicht nur über den Harras, sondern verweilen. Wie die ältere Frau, neben dem Brunnen. Sie sitzt dort, aber sie wartet nicht, vielleicht schaut sie einfach nur, wie es so ist, unter Menschen zu sein. Ein paar Meter weiter sitzen zwei Frauen und ein Mann auf der wellenförmigen Holzbank, ihnen gegenüber hat eine Frau auf ihrem Rollator Platz genommen. Ein Quartett im Rentenalter, offenbar ganz fidel, denn durch den Verkehrslärm dringt das Lied "Lili Marleen" vom Handy-Lautsprecher, bei dessen Refrain die vier einstimmen. Da fällt auch die grauhaarige Frau nicht weiter auf, die ihre Schritte zum Papierkorb lenkt. Gepflegtes Äußeres, eine Umhängetasche über der Schulter, in der einen Hand auch noch ein kleiner goldglitzernder Geschenkbeutel. Kurzer, aber prüfender Blick in den Abfall, dann geht die zierliche Frau weiter.

Anna Kunkel heftet sich an ihre Fersen, sie hat längst bemerkt, wonach die Frau sucht: Pfandflaschen. Ein paar davon ragen knapp aus dem Beutel. Anna Kunkel holt sie ein, stellt sich als Ansprechpartnerin für Seniorinnen und Senioren in Sendling vor. Zweimal in der Woche ist die Sozialpädagogin rund um das Alten- und Service-Zentrum (ASZ) Sendling der Arbeiterwohlfahrt unterwegs, um auch jene Menschen zu erreichen, die Beratung brauchen, aber nicht selbst Einrichtungen aufsuchen. Eine klassische Aufgabe für Streetworker, wie sie für Jugendliche schon lang im Einsatz sind. Im Seniorenbereich ist sie noch Neuland: Vor zwei Jahren hat das Sozialreferat das Projekt mit jeweils einer halben Stelle in vier der 32 Alten- und Servicezentren gestartet.

Alte Menschen aus der Isolation holen und sie mit der nötigen Unterstützung zu versorgen, die ihnen hilft, das Leben trotz gesundheitlicher Einschränkungen möglichst gut zu bewältigen, ist das Ziel des Projekts. Das geht meist nicht beim ersten Ansprechen. Der Frau, die Pfandflaschen sammelt, begegnet Anna Kunkel nun bereits zum vierten Mal. Immerhin erinnert sich nun die Angesprochene, Anna Kunkel erfährt, dass die Frau Grundsicherung im Alter bezieht, weil die Rente nicht zum Leben reicht. Als ehrenamtliche Helferin verdient sie sich noch ein paar Euro Aufwandsentschädigung hinzu. Nein, sie komme schon klar mit dem Geld, sagt sie. Aber im Laufe des längeren Gesprächs stellt sich dann heraus, dass die Frau gerne mal das große kulturelle Veranstaltungsangebot nutzen würde. Da kann Kunkel gut anknüpfen und sie auf den Kulturraum e.V. hinweisen, der Menschen mit geringem Einkommen kostenfreie Eintrittskarten vermittelt. Anna Kunkel angelt den Kulturraum-Flyer aus ihrem prall mit Informationsmaterial gefüllten Rucksack. Die Frau greift interessiert zu. Vielleicht ergibt sich ja beim nächsten Zusammentreffen die Möglichkeit, mit der Frau über ihre finanzielle Situation zu reden. Um zu schauen, ob sie weitere Hilfen braucht, muss Anna Kunkel erst das Vertrauen der Frau gewinnen.

Zu ihrer Tour durchs Viertel bricht Anna Kunkel Dienstagnachmittag und Freitagvormittag vom ASZ aus auf. Meist beginnt sie mit dem Valleypark. Dort kommt ihr auch schon ein freundlich grüßender weißhaariger Mann mit Stock entgegen, der regelmäßig seine Runden durch den Park dreht. Der Mann hat noch keinen Unterstützungsbedarf, aber die Visitenkarte und das Angebot, dass er sich melden kann, nimmt er durchaus dankbar an. Ein Rentner, der gerade seinen kleinen Hund ausführt, kennt das ASZ zwar schon von außen, aber war noch nie dort. Jetzt interessiert er sich dafür, ehrenamtlich mitzuhelfen, lässt sich den entsprechenden Flyer geben und verabschiedet sich mit den Worten: "Man sieht sich."

Anna Kunkel, Streetworkerin für Senioren

Die Mappe mit dem Informationsmaterial und Visitenkarten hat die Streetworkerin immer bei sich.

(Foto: Florian Peljak)

Auf dem großen Spielplatz im Valleypark entdeckt Anna Kunkel zwei ältere Frauen, die sich angefreundet haben. Eine der beiden kann nicht mehr gut laufen, selbst mit dem Stock bewegt sie sich mühsam. Die Frau scheint mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben, der Kontakt zu den Kindern ist abgerissen, der Mann vor wenigen Jahren gestorben. Sein Grab würde sie gerne besuchen, doch der Weg ist ihr zu weit. Kunkel empfiehlt ihr den kostenlosen Friedhofservice, einen Fahrdienst, der sie hin und zurück bringt. Aber dazu durchringen, ihn anzurufen, kann sich die Witwe nicht. Noch nicht, sagt Kunkel, die auch weiter das Gespräch mit der Frau suchen wird, weil sie überzeugt ist, dass sich die Lebenssituation der Frau verbessern lässt.

Am Margaretenplatz wird die Not von Menschen sichtbarer. Wenn die Missionarinnen der Nächstenliebe am Nachmittag Essen ausgeben, kommen viele Wohnungslose dorthin. Doch sind da auch immer wieder ältere Menschen dabei, die alles dafür tun, sich die finanziellen Nöte nicht ansehen zu lassen. Einer Frau Mitte 60, gesundheitlich angeschlagen, die dort regelmäßig anzutreffen war, bot Anna Kunkel ein Beratungsgespräch an. Dreimal vereinbarten sie einen Termin, aber die Frau kam nicht. Beim vierten Termin fasste sie sich ein Herz, kam und offenbarte ihre Schuldenprobleme. Anna Kunkel konnte die Frau an die Schuldnerberatung vermitteln, einen Rollator verschaffen und sie davon überzeugen, zum Arzt zu gehen.

Aus der Erfahrung heraus, dass es alte Menschen gibt, die trotz der umfassenden Beratungs- und Unterstützungsangebote nicht ausreichend versorgt sind, ist "Save" entstanden, was "Retten" bedeutet und für den sperrigen Projektnamen "Senioren und Seniorinnen aufsuchen im Viertel durch Experten und Expertinnen" steht. In Sendling, im Westend, in Milbertshofen und in Harlaching sind die ASZ-Streetworker unterwegs, um dafür zu sorgen, dass die Hilfen auch Menschen erreichen, die ihren Bedarf gar nicht erkennen. Oder sich aus falscher Scham gar nicht trauen, nach Unterstützung zu fragen. Trotz der vielen Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie konnten in den vier Projektvierteln insgesamt 226 Senioren erreicht werden, die dann nach der Kontaktaufnahme in einem oder mehreren Gesprächen beraten wurden. Ein gutes Drittel dieser Senioren, so bilanziert das Sozialreferat, fand darüber den Weg in Alten- und Servicezentren, Sozialbürgerhäuser, zum Amt für Wohnen und Migration, zu Mittagstischen und Essensausgaben, erhielt ärztliche Versorgung, hauswirtschaftliche Hilfe oder ambulante Pflege. Das Pilotprojekt, sagt der Sendlinger ASZ-Leiter Kai Weber, stößt auf großes Interesse der anderen Zentren, die das Angebot noch nicht haben. Trotz knapper Kassen will die SPD, unterstützt von den Grünen, die Straßen-Sozialarbeit im nächsten Jahr in fünf weiteren ASZ installieren.

Die Runde in Sendling ist fast zu Ende. Auch auf der Bank vor dem kleinen Laden an der Ecke Alram-/Aberlestraße, in dem eine Bäckerei "Gutes von gestern" sehr günstig verkauft, sitzen immer wieder Menschen, die Anna Kunkel anspricht. Wie etwa einen Mann, dessen Bruder pflegebedürftig ist, und der darüber klagt, dass die Pflegeleistungen nicht ausreichen. Anna Kunkel weist ihn auf das Landespflegegeld hin, von dem er noch nichts gehört hat. Nach längerem Gespräch lässt er sich den Flyer des ASZ geben, für eine mögliche weitere Beratung.

Nach den Kontaktbeschränkungen der Corona-Zeit sei der Gesprächsbedarf sehr hoch, erklärt Anna Kunkel. "Viele ältere Menschen hatten ja niemanden, mit dem sie sich aussprechen konnten. Sie suchen jetzt ein offenes Ohr." Wenn sie die Menschen anspricht, reagieren die meisten erfreut, bisweilen sogar erstaunt: "Sie freuen sich, dass sie als ältere Personen noch wahrgenommen werden, und hatten gar nicht damit gerechnet, dass sich noch jemand für sie interessieren könnte." Dabei erfährt sie immer wieder, wie groß die Einsamkeit ist. "Ich habe niemand, bin verwitwet", solche Äußerungen hört sie oft. In den Gesprächen fragen sich viele: "Was wäre, wenn es mir einmal schlecht geht, wer steht mir dann zur Seite?"

Anna Kunkel wird sicher eine gute Lösung finden. Und selbst wenn sie dreimal versetzt worden ist, wird sie die Menschen nicht aufgeben.

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