Süddeutsche Zeitung

Stadtplanung:SEM: Ein Projekt, das provoziert

Was ist eine Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme? Wie verhindert sie Bodenspekulation? Und warum gibt es so heftigen Widerstand im Münchner Nordosten und im Norden? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Dominik Hutter, Sebastian Krass und Kassian Stroh

Was ist eine Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM)?

Eine Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM), ein Instrument aus dem Baugesetzbuch, erleichtert der Stadt, ein großes Gebiet mit vielen Eigentümern zu überplanen. Das Prinzip: Es soll eine Planung aus einem Guss entstehen - ohne Rücksicht nehmen zu müssen auf die Zuschnitte der Grundstücke und die Eigentumsverhältnisse. Komplizierte Extrawürste und unerwünschte Kompromisse sollen so vermieden werden. Eine SEM ist auf Kooperation angelegt. Droht aber ein Grundstückseigentümer, den Bau eines neuen Wohnviertels zu blockieren, kann er als letzte Konsequenz enteignet werden. Konstruktive Mitwirkung ist also Pflicht. Eine SEM soll Bodenspekulation verhindern und schöpft die Gewinne, die allein dadurch entstehen, dass Baurecht geschaffen wird, für die soziale und verkehrliche Infrastruktur ab: für Straßen oder Schulen etwa. Dies wäre planungsrechtlich auch anders möglich, mit städtebaulichen Verträgen und den Vorgaben der sozialgerechten Bodennutzung (Sobon) etwa. Normalerweise kommt dabei aber nicht so viel Geld fürs Allgemeinwohl zusammen wie bei einer SEM.

Was bedeutet das für Bodenpreise und drohen auch Enteignungen?

Bislang gab es im Nordosten noch keine SEM, sondern nur die Vorbereitungen dafür. Auch für den Münchner Norden hat der Stadtrat im Juli 2020 vorbereitende Untersuchungen für eine SEM beschlossen. Spielen alle Eigentümer mit, kann die Planung auch ohne SEM weitergehen. Sicherheitshalber wurden aber schon einmal die Bodenpreise eingefroren - auf dem aktuellen Stand, also ohne die lukrativen Neubaupläne. Ein Grundstück darf trotzdem zu beliebigen Preisen an Private weiterverkauft werden. Der Käufer muss aber damit rechnen, dass ihm die Stadt die Fläche später zum eingefrorenen, also wohl niedrigeren Preis, abkauft. Für den Bau übernimmt die Stadt erst einmal sämtliche Areale. Sie werden in der Endphase normalerweise zum dann entsprechend höheren Marktpreis wieder abgegeben. Mit den Gewinnen werden Straßen, Schulen, Kitas und Parks finanziert. Was danach noch übrig ist, wird als Überschuss anteilig an die früheren Grundeigentümer ausgezahlt. Enteignungen sind theoretisch möglich, wenn sich jemand partout verweigert und so das ganze Projekt zu kippen droht. Dieser Schritt ist aber nicht nur langwierig, unpopulär und juristisch heikel - die Regierungsfraktionen von Grünen und SPD und Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) wollen sie vermeiden, behalten sie sich aber für den äußersten Fall vor, wenn einzelne EIgentümer das Gesamtprojekt gefährden.

Wie ist der Stand der Dinge bei der SEM Nordost?

Das Verfahren läuft schon seit mehr als zehn Jahren. 2008 beschloss der Stadtrat vorbereitende Untersuchungen für eine SEM auf dem Gelände des Münchner Trabrenn- und Zuchtvereins in Daglfing sowie das westlich anschließende Gebiet bis zur Bahntrasse. 2011 erweiterte der Stadtrat das Untersuchungsgebiet auf die 600 Hektar, um die es jetzt geht. 2016 stellte das Planungsreferat drei grobe Konzepte vor für eine Besiedlung mit 30 000 Menschen plus 10 000 Arbeitsplätzen samt Naherholungsflächen mit Badesee. Nach kontroversen Diskussionen und auch auf Wunsch des Bezirksausschusses beschloss der Stadtrat im Februar 2019, bei einem städtebaulichen Ideenwettbewerb neue Konzepte entwickeln zu lassen. Auf Antrag der CSU sollten die Teilnehmer auch Varianten für 10 000 oder 20 000 Einwohner entwerfen, nicht nur für 30 000 Einwohner, wie vom Planungsreferat gewünscht. Die Ergebnisse dieses Wettbewerbs wurden Ende Januar 2020 präsentiert.

Wie geht es weiter?

Aus den 32 beim Ideenwettbewerb eingereichten Plänen hat das Preisgericht der Stadt mehrere Sieger gekürt, den ersten Platz belegten das Düsseldorfer Architekturbüro Rheinflügel Severin und die Berliner BBZ Landschaftsarchitekten. Mit den Wettbewerbsergebnissen wird sich der im März neu gewählte Stadtrat noch beschäftigen. Er muss entscheiden, in welchem Maß der Nordosten bebaut wird und wie viel von der derzeitigen Struktur erhalten bleibt. Dann könnte auch die Frage konkret werden, welche Grundstücke, die derzeit noch in Privatbesitz sind, man braucht und wie viel die Stadt dafür zahlen soll. In den Wettbewerb konnten auch Bürger ihre Ideen einfließen lassen; die Grundeigentümer hatte die Stadt ebenfalls zu einer Informationsveranstaltung eingeladen.

Ist schon bekannt, was genau kommen wird?

Konkrete Aussagen sind derzeit schwer zu machen - auch wenn die SEM-Gegner mit konkreten Szenarien arbeiten: 30 000 Einwohner, Hochhäuser, gar Plattenbauten am Stadtrand, Zusammenbruch des Verkehrs. Dabei sollte ja der Ideenwettbewerb erst einmal konkrete Diskussionsgrundlagen schaffen. Angesichts des Wohnraummangels und des Zuzugs ist unstrittig, dass die Stadt auch in den Nordosten wachsen muss, ist er doch eine von zwei verbliebenen Siedlungsreserven der Stadt neben dem Norden bei Feldmoching. Klar ist auch, dass im Nordosten neben Wohnungen Gewerbe- und Büroflächen gebaut werden - einerseits, weil sie gebraucht werden, andererseits, weil man keine Schlafstädte mehr bauen will. Die Stadtrats-SPD hat gefordert, dort "kleinteiliges Gewerbe" anzustreben, kein Gewerbegebiet, wie es sie hinter der Stadtgrenze im Landkreis München zahlreich gibt. Die Stadt wird versuchen, ein gemischtes Quartier zu entwickeln, zu dem auch Grün- und Erholungsflächen gehören. Es ist nicht zu erwarten, dass sie die Landwirtschaft im Nordosten komplett abschafft. Auch der Pferdesport soll erhalten bleiben. Und der Natur- und Artenschutz werden in der Debatte eine wichtige Rolle spielen. Das Verhältnis der Nutzungen zueinander aber ist noch offen. Mit einer Bebauung dürfte es nicht vor 2030 losgehen.

Und wie ist der Stand im Münchner Norden?

Im Norden geht es um ein noch größeres Areal als im Nordosten, und zwar um 900 weitgehend unbebaute Hektar rund um den Ortskern von Feldmoching, die bisher im Wesentlichen landwirtschaftlich genutzt werden. Dass hier nun überhaupt wieder mit einer SEM geplant werden soll, ist Ergebnis einer Korrektur, die die neue grün-rote Rathauskoalition vorgenommen hat. 2018 nämlich hatte das alte Bündnis von CSU und SPD dem Widerstand gegen eine angedachte SEM nachgegeben und sich davon verabschiedet. Stattdessen wurde ein so genanntes "Kooperatives Stadtentwicklungsmodell" (Kosmo) ausgerufen, das ohne die Möglichkeit von Enteignungen auskommen sollte - aber auch erst noch hätte entwickelt werden müssen. Grüne und SPD hatten sich aber vor der Kommunalwahl im März 2020 zur SEM bekannt. Folgerichtig haben sie nun die "Kosmo" abgeblasen und sind zum SEM-Modell auch für den Norden zurückgekehrt. Der Prozess ist somit in einem viel früheren Stadium als im Nordosten. Wie viele Menschen einmal im SEM-Gebiet im Norden leben und arbeiten werden, wo die Siedlungsgebiete entstehen und wo Erholungsflächen und wo es weiter Landwirtschaft geben wird, all das ist noch offen.

Wer kämpft gegen die SEM?

Das "Bündnis Nordost" ist die jüngere von zwei Dagegen-Initiativen. Es hat sich im Herbst 2018 aus Anwohnern Daglfings formiert und besteht nach eigenen Angaben aus einem Kern von 40 bis 50 Mitgliedern. Es ist verbunden mit der "Bürgerinitiative Lebenswertes Daglfing" und darauf bedacht, sich vom zweiten Gegnerbündnis "Heimatboden" abzugrenzen: "Wir arbeiten unabhängig davon, keiner von uns hat ein finanzielles Interesse an dem Thema", sagt Bündnis-Sprecherin Daniela Vogt. In "Heimatboden" haben sich Landwirte und Grundstückseigentümer aus dem Norden und dem Nordosten zusammengeschlossen. Sie treibt die im Raum stehende juristische Möglichkeit von Enteignungen um - wobei manche "Heimatboden"-Aktivisten betonen, es gehe ihnen nicht um die Höhe eines Verkaufspreises, sie wollten ihr Land generell nicht hergeben. Dieses Bündnis hatte zwischenzeitlich erfolgreich gegen die Einleitung eines SEM-Verfahrens in Feldmoching gekämpft und ist mit den Bogenhauser CSU-Politikern Robert Brannekämper und Xaver Finkenzeller verbunden. Es hat nach eigenen Angaben etwa 200 Mitstreiter. Da sie sich von den Rathauspolitikern nicht richtig vertreten fühlen, traten die SEM-Gegner - zusammen mit anderen Initiativen, die Münchens Wachstum bremsen wollen - bei der Stadtratswahl im März 2020 mit einer eigenen Liste an, der "München Liste", die ein Stadtratsmandat errang, das von Dirk Höpner besetzt wird. Im Juli 2020 hat sich ein neues Anti-SEM-Bündnis formiert. Zum "Bündnis für München" gehören neben "Heimatboden" auch weite Teile der Rathaus-Opposition: die Fraktionen von CSU, FDP/Bayernpartei und ÖDP/München-Liste, aber auch Verbände von Bauern und Gärtner sowie Vereine und Stadtviertelpolitiker.

Und wer kämpft dafür?

Dafür ist oft schwieriger zu organisieren als dagegen, und die künftigen Bewohner gibt es ja noch nicht. Um den Wohnungsbau zu unterstützen, hat sich aber im Januar 2019 ein "Pro-SEM"-Bündnis gegründet. Mit dabei: die frühere Stadtbaurätin Christiane Thalgott, ihr früherer Stadtdirektor Stephan Reiß-Schmidt und Christian Stupka, Vorstand der Genossenschaftlichen Immobilienagentur (Gima). Ihre These: Bezahlbare Mieten und die notwendige Infrastruktur im Interesse der Allgemeinheit erhält man nur, wenn man die Bodenspekulation eindämmt - mit einer SEM. Ins Spiel gebracht hat die Initiative auch die Idee, darüber bei einem Bürgerentscheid abstimmen zu lassen.

Gab es in München schon einmal eine SEM?

Als die Bundeswehr in den 1990er-Jahren begann, die meisten ihrer einst elf Münchner Kasernen aufzugeben, wurden mehrere von ihnen nach den SEM-Regeln überplant - etwa die Funkkaserne, der heutige Domagkpark. Die Ausgangslage war dort allerdings anders: Es gab mit dem Bund nur einen Grundstückseigentümer, mit dem die Stadt verhandeln musste. Auch für das sogenannte Lerchenauer Feld erwog die Stadt zeitweilig eine SEM, nahm davon aber wieder Abstand. Dort sollen circa 1600 Wohnungen entstehen.

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