Süddeutsche Zeitung

Seenotrettung:Die nächtlichen Schreie auf der "Alan Kurdi"

Als angehende Ärztin engagiert sich Marianne Pretschner für die Seenotrettungsorganisation Sea-Eye. Das Leid der Geflüchteten ist für sie sehr real, denn bei den medizinischen Untersuchungen sieht sie von Kohle verbrannte Füße oder vernarbte Frauenkörper.

Von Johanna Hintermeier

Nachts, auf Deck der Alan Kurdi, erblickte Marianne den schönsten Sternenhimmel. Gleichzeitig hörte sie die Schreie der Geretteten im Schlaf. An Bord lagen Menschen, meist aus Nordafrika, die sich in Schlauchbooten auf nach Europa gemacht hatten und in Seenot geraten waren. Die Gründe sind bekannt: Auf die löchrigen Boote drängen sich oft zu viele Menschen, nicht selten kann keiner an Bord ein Schiff steuern, die wenigsten können schwimmen. Und man kennt auch die Gründe, warum die lebensgefährliche Flucht nach Europa für die Menschen dennoch so attraktiv ist.

Marianne Pretschner, 26, Medizinstudentin aus München, engagiert sich für die Hilfsorganisation Sea-Eye, die zivile Seenotrettung im Mittelmeer leistet und auch in München Informationsveranstaltungen organisiert. Hier unterstützt Marianne die Vernetzung mit anderen Seenotrettungsorganisationen und betreut Infostände. Auf dem Mittelmeer tat sie das, was sie auch als angehende Ärztin möchte: Leben retten.

Marianne ist 1,75 Meter groß, trägt ihre glatten, braunen Haare mittellang, ein Nasenring ziert das schmale Gesicht mit den großen, runden braunen Augen, die eingehend beobachten. Schwarze Vans, schwarze Jeans, und grauer Cardigan, an den Ohren waren früher vermutlich Tunnelohrringe, die Ohrlöcher sind heute ausgedehnt.

Von München auf ein Schiff vor der libyschen Küste - Mariannes Weg dorthin begann Ende 2018, als die Europäische Union ihre Seenotrettungsmission Sophia einstellte und es so keine organisierte Seenotrettung im Mittelmeer mehr gab. "Und wer macht es jetzt?", fragte sich Marianne.

Sie stand kurz vor ihrem zweiten medizinischen Staatsexamen und entschloss sich, als Freiwillige ihre Fähigkeiten auf einer Rettungsmission der Sea-Eye einzubringen. "Als junger Mensch hat man wenig Geld zum Spenden, meine Ressource ist Zeit", erklärt die gebürtige Österreicherin in Kärntner Mundart pragmatisch. Dass diese Aufgabe weit über ein durchschnittliches Maß an Engagement hinausgeht, ist eine Kategorie, in der Marianne nicht denkt: "Die Menschen im Mittelmeer sind akut in Gefahr. Für mich liegt es in der Natur des Menschen, helfen zu wollen." Marianne sagt das nicht stolz. Auch nicht, als würde sie andere dazu auffordern. Sie sagt es wie jemand, der ohne viel Lärm nach diesem Prinzip lebt.

2019 ging es im Frühsommer los. Im spanischen Boreana wurde ein ehemaliges Forschungsschiff aus der DDR wieder seetauglich gemacht. Namensgebend ist Alan Kurdi, das Foto seines Kinderleichnams an der türkischen Mittelmeerküste ging 2015 um die Welt. Marianne richtete "das Hospital" an Bord ein: Notfallmedikamente für Übelkeit und Durchfall, sie baute Regale und plante die Essensvorräte.

Die internationale Crew bestand aus zehn Freiwilligen und zehn Seeleuten, die rechtliche Verantwortung übernahm der Kapitän. Als es los ging, musste Marianne als erstes ihre Seekrankheit überwinden, übernachtet hatte sie auf einem Schiff zuvor nie: "Am ersten Tag habe ich immer fünf Minuten gestaubsaugt, dann fünf Minuten den Horizont angeschaut und mich dann doch übergeben", sagt sie und lacht.

Auf See haben auch die Gefühlslagen einen starken Wellengang. "Man ist hin- und hergerissen, einerseits möchte man möglichst viele Leute retten, andererseits wünscht man sich die ganze Zeit, dass niemand in Gefahr ist", sagt Marianne. Wenn Marianne zuhört oder überlegt, dann lächelt sie leicht, vor allem mit den Augen. Man gewöhne sich sehr schnell an den neuen Alltag, erzählt sie, und zum Nachdenken bleibe in den langen Schichten eh kaum Zeit.

Mariannes Tonfall ändert sich nicht, wenn sie von den schrecklichen oder den schönen Dingen auf der Mission erzählt. Beides scheint für sie eine Berechtigung zu haben. Und beides hat ihr Leben in jenen Momenten eben geprägt. Erhielt das Schiff einen Notruf, wechselte die Stimmung zu Anspannung. Wenn nicht bekannt war, wie viele Menschen in Not waren, steuerten im besten Fall mehrere zivile Seenotrettungsschiffe an den Unfallort. Immer war es ein Wettlauf mit der Zeit: "Die Alan Kurdi fährt nur neun Knoten, das ist wie mit dem Fahrrad Richtung Libyen fahren", erklärt Marianne.

Die Erwartungen der Geflüchteten sind hoch

Wenn Menschen an Bord aufgenommen wurden, war Marianne für die erste medizinische Untersuchung zuständig. "Da wird das Leid dann sehr real, wenn du von Kohle komplett verbrannte Füße siehst. Oder Frauenkörper, die komplett vernarbt sind, bis auf die Hände und Gesichtspartie, weil man das nicht bedecken kann."

Je nachdem, wie lange es dauere, die Menschen in Häfen zu bringen, desto enger könne die Beziehung zu den Geretteten werden. Ein neunjähriger Junge erzählte Marianne, dass seine Eltern bei einem Bombenangriff "verschwunden" seien. Diesen Abgründen stand die Freude der Geretteten gegenüber, "We are alive!" riefen viele. Abends wurde auf der Gitarre gespielt und dazu gesungen. Auf Plakaten an Bord schrieben die Geflüchteten "We love Europe" und "Germany is the best". Für Marianne waren das Momente des Zwiespalts: "Die Erwartungen an Europa und ihr neues Leben sind so hoch. Und man selbst weiß, wie schwer diese Erwartungen zu erfüllen sind. Vor den Menschen liegen oft Jahre in Flüchtlingslagern mit aufwendigen Asylverfahren, an denen viele scheitern werden." Sie hätte sich selbst eingeredet, dass es so dennoch besser für die Menschen sei. Nichtsdestotrotz bleibt für Marianne der bittere Beigeschmack, dass es, gemessen an ihren Maßstäben, keine Gerechtigkeit für die Geflüchteten gibt.

Bei ihrer Nachtschicht, wenn sie an Deck saß und dem Brummen der Schiffsmotoren lauschte, hörte Marianne oft die Schreie. "Ich habe viel mit der Crew darüber geredet. Und am Ende hatten wir eine Art Aufarbeitungsseminar. Ich bin aber gut damit zurechtgekommen", sagt sie heute ruhig.

Freiwillig an einer Seenotrettungsmission teilzunehmen, verläuft nicht nach festen Zeitplänen und Regeln: Es kann wochenlange Verzögerungen geben, wenn der TÜV das Schiff nicht auf See lässt, und andersherum haben sich in der Vergangenheit immer wieder Länder wie Italien geweigert, die Seefahrzeuge mit Geflüchteten im Hafen einlaufen zu lassen. Dann stecken die Schiffe samt Geflüchteten und Crew auf See fest. "Ein Moment, als mir klar wurde, wie politisch die Arbeit ist, war vielleicht, als die italienische Küstenwache mit einem Dokument an Bord kam, dass uns mit rechtlichen Konsequenzen gedroht hat, wenn wir in ihre Hoheitsgebiete einfahren", sagt Marianne.

Noch einige Zeit nach den drei Wochen auf See schwankte hin und wieder der Boden unter Mariannes Füßen. Ob die Mission ihr Leben verändert hat? Sie zuckt mit der Schulter. Sie ist sich nicht sicher. "Wahrscheinlich", sagt sie nach einer kurzen Pause, "aber ich könnte nicht sagen, wie. Ich bin konsequenter geworden. Ich brauche nicht viel im Leben. Und die Überwindung, so was wieder zu machen, ist viel geringer."

109 Menschen hat die Sea-Eye auf der Mission im Sommer 2019 gerettet. Jeden Tag machen sich mindestens so viele auf den Weg über das Mittelmeer nach Europa, ständig sterben welche beim Versuch. Marianne weiß das.

Sie verfolgt im Internet oft die Bewegungen der Seenotrettungsboote und ist häufig im Austausch mit ihrer alten Crew. Dennoch, sagt sie, müsse sie das Leid teilweise ausblenden, so wie eben alle, um leben und arbeiten können. Außerdem hat Marianne es sich zur Aufgabe gemacht, in München daran zu erinnern. "Das Thema darf nicht verschwinden", sagt sie.

Gerade lernt Marianne auf ihre letzte Prüfung, dann ist sie Ärztin. Man bekommt das Gefühl, bei ihr ist das nicht nur Beruf, sondern auch Berufung.

Nachts in München hört sie zum Einschlafen eine Audioaufnahme des Schiffsmotors - "der Beat der Alan Kurdi", sagt Marianne. Sie lacht.

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SZ vom 17.05.2021/vewo
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