Sie wird beschimpft. Sie wird mit dem Tod bedroht. Ebenso ihre Tochter. Der oder die Täter kennen die Adresse der Anwältin. Sie kennen sie aus dem Polizeicomputer. Und als nach drei Jahren ein 53 Jahre alter Berliner als mutmaßlicher Täter festgenommen wird, ein polizeibekannter Rechtsextremist, der eine Schusswaffe in der Wohnung hat, als also das Schlimmste vorbei zu sein scheint - da wird ein Hinweis auf die streng geheime Wohnadresse an alle Mitglieder des hessischen Untersuchungsausschusses zum Mordfall Walter Lübcke weitergeleitet, auch an die der AfD. Dazu auch noch die Adresse des Kindergartens, in den die Tochter geht. Wie geht eine Frau damit um, die seit Jahren im Fadenkreuz der gewaltbereiten rechten Szene in Deutschland steht? Seda Başay-Yıldız, 45, gebürtige Marburgerin, schreibt: "Man darf alles verlieren, nur seine Haltung nicht."
Das Zitat hat sie an ihrem Twitter-Account oben angepinnt. Als "Happy birthday" für das Grundgesetz. Es könnte auch das Motto sein für ihr eigenes Tun und Lassen. Für ihre Haltung ist Başay-Yıldız am Montag im Münchner NS-Dokumentationszentrum mit dem Georg-Elser-Preis der Stadt ausgezeichnet worden. Auf den Tag genau 82 Jahre, nachdem der Schreiner Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller versuchte, den Massenmörder Adolf Hitler mit einer Bombe zu töten. Mit dem Preis würdigt die Stadt seit 2013 alle zwei Jahre "das Wirken und Handeln von Menschen mit Zivilcourage, die sich für die demokratischen Errungenschaften einsetzen". Preiswürdig sind alle, die "sich gegen undemokratische Strukturen, Organisationen und Entwicklungen auf ganz individuelle Weise zur Wehr setzen und durch unangepasstes Handeln den Blick auf aktuelle Gefährdungen der Demokratie richten".
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Der Preis ist ausdrücklich nicht auf Münchner beschränkt. Und doch ist das Engagement der Anwältin eng mit München verbunden. "95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie Opfer eines rassistischen Anschlags sein", sagt Başay-Yıldız am 9. Januar 2018 in München. Es ist ihr Schlussplädoyer als Vertreterin der Opferfamilie Şimşek im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht an der Nymphenburger Straße. Und sie sagt: "Sie werden nicht in die Situation kommen, den Namen auf ihrem Briefkasten oder der Klingel zu entfernen, damit von außen nicht erkannt wird, dass hier eine ausländische Familie wohnt." Seither kursieren die Adresse der Anwältin und Details zu ihrer Familie in der rechten Szene. Ihr Haus wird beobachtet, fotografiert. Sie werde sterben, wird ihr angedroht, ihre ganze Familie werde "kompetent betreut", ihre Tochter werde "geschlachtet". Fast drei Jahre geht das so. Der Absender nennt sich "NSU 2.0".
Başay-Yıldız macht weiter. Obwohl - und wohl auch weil - sie weiß, wie ernst die Drohungen zu nehmen sind. Im Prozess gegen den Waffenhändler Philipp K., der dem rassistischen Attentäter vom Münchner OEZ die Tatwaffe geliefert hat, vertritt Başay-Yıldız die Mutter des ermordeten 17 -jährigen Hüseyin Dayıcık. Und sie kämpft für die Rechte der Familien von Serdat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu und Gökhan Gültekin, die 2020 in Hanau von einem verschwörungsgläubigen Rassisten erschossen wurden . Der Täter, Tobias R., hatte zuvor fünf Jahre in München gelebt und dort bei einem Schützenverein trainiert.
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Als "leidenschaftliche Strafverteidigerin" bezeichnete am Montag die SZ-Journalistin Annette Ramelsberger, langjährige Beobachterin des NSU-Prozesses, Başay-Yıldız. "Sie liebt diesen Rechtsstaat, weil er Willkür verhindert, weil jede Behörde und deren Entscheidungen überprüft werden können von den Gerichten. Und weil jeder Mensch, der angeklagt ist, das Recht auf Verteidigung hat." Das gelte auch für islamistische Gefährder und IS-Kämpferinnen, denn: "Heilige brauchen keine Verteidiger, das Recht ist auch für schwere Fälle da."
An diesem Respekt für den Rechtsstaat und ihrer Liebe zur Heimat halte Başay-Yıldız fest, sagte Ramelsberger. Auch, nachdem Frankfurter Polizisten unrechtmäßig Datenbanken nach der Anwältin, nach ihrem Mann, ihrer Tochter, sogar nach ihren Eltern durchstöbert haben. "Diese Polizisten rissen untereinander in Chats menschenverachtende Witze und teilten Hitlerbilder. Aber angeblich wussten sie nicht, wem sie die Daten weitergeleitet hatten", so Ramelsberger. "Man muss das nicht glauben." Dennoch habe sich Başay-Yıldız ihre Haltung bewahren können, "eine Leistung, erkämpft mit Vernunft und Leidenschaft, mit Trotz und, ja auch, mit Mut". Wirklicher Mut bedeute: Angst zu haben, "berechtigte Angst" - und trotzdem weiterzumachen. Diese Haltung gipfle in Seda Başay-Yıldız' Satz: "Ich bin Deutsche, ob sie es wollen oder nicht."