Soziales Engagement an Schulen:"Die Kinder verlassen sich auf uns"

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Schwierige Wörter machen noch Probleme: Mark mit seinem Lesepaten Hans-Jörg Begemann. (Foto: Robert Haas)

Ehrenamtliche Helfer sind als Ergänzung des Unterrichts gefragt wie nie. Sie wollen dazu beitragen, dass Bildung gelingt - auch bei denjenigen, die sonst nicht genug Unterstützung bekommen. Alle Engpässe können sie damit aber nicht auffangen.

Von Kathrin Aldenhoff

Es ist eine andere Welt, die sich Hans-Jörg Begemann vor einem Jahr eröffnet hat. 35 Jahre war er in der Wirtschaft tätig, dann schied er aus seinem Beruf aus und ordnete sein Leben neu. Seitdem geht der 56-Jährige jede Woche in die Ernst-Reuter-Grundschule in Haidhausen und liest, zum Beispiel mit dem neun Jahre alten Mark. Eigene Kinder hat er nicht, Schule kannte er vor allem aus der eigenen Kindheit. Seit einem Jahr lernt er sie neu kennen, als ehrenamtlicher Lesepate.

Es gibt in München rund 350 öffentliche Schulen mit etwa 160 000 Schülerinnen und Schülern. Wie viele Ehrenamtliche sich dort engagieren, ist schwer festzustellen; so viele Organisationen und Vereine tummeln sich an den Schulen, von kleinen Initiativen mit fünf Helfern bis hin zu Organisationen mit 300 Ehrenamtlichen. Allein in München gibt es sieben Freiwilligen-Agenturen, die Ehrenamtliche in passende Projekte vermitteln. Die Förderstelle für bürgerschaftliches Engagement in München geht von Tausenden Freiwilligen aus, die beim Lernen helfen, Schüler bei den Hausaufgaben betreuen oder Kinder als Paten begleiten. Die meisten engagieren sich an Grund- und Mittelschulen.

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Der Bedarf an den Schulen war schon immer groß, und er ist mit der Pandemie gestiegen. Die Freiwilligen-Agentur Tatendrang registriert jetzt deutlich mehr Anfragen im Bereich Lernförderung, über alle Schularten hinweg. Auch der Verband "Seniorpartner in school", der ältere Menschen als Mediatoren an Schulen bringt, hat mehr Anfragen, als er bedienen kann. Den Schulen fehlen die Lehrer, die Wissenslücken der Kinder und Jugendlichen sind nach Schulschließungen und Wechselunterricht noch immer groß. Und die Bildungsgerechtigkeit, die es noch nie so richtig gab, scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Was kann das Ehrenamt da leisten? Und was nicht?

Mark liest flüssig, bei manchen Wörtern tut er sich schwer

Ein Montag im Oktober, zweite Schulstunde, Hans-Jörg Begemann holt Mark am Klassenzimmer der 3b ab, geht mit ihm ein paar Türen weiter in einen kleinen Raum mit einem großen Tisch. An diesem Tag auf dem Programm: die Geschichte von Rübezahl. Mark liest flüssig, bei manchen Wörtern tut er sich schwer, "einsam" zum Beispiel - da liest er stattdessen das Wort "zusammen". Oder: planschen, fliehen, bitterlich - alles schwierige Wörter. Begemann fragt nach: "Weißt du, was Planschen ist?" "Ja, so im Wasser", sagt Mark und liest weiter.

Marks Eltern kommen aus Russland, er ist in Deutschland geboren. Zuhause sprechen sie Russisch. Seine Klassenlehrerin hat ihn für das Projekt Lesezeichen vorgeschlagen, und seit April dieses Jahres sind Hans-Jörg Begemann und Mark ein Leseteam. "Am Anfang hat Mark ohne Betonung vorgelesen", sagt Begemann. Und fügt, an Mark gerichtet, hinzu: "Jetzt liest du so, dass man es richtig gut versteht." Mark lächelt breit. Jetzt gehe es noch darum, dass Mark wirklich versteht, was er da liest.

Hans-Jörg Begemann ist einer von fünf Lesepaten an der Ernst-Reuter-Grundschule; er hat vor einem Jahr mit einem Kind angefangen, hatte zwischenzeitlich sechs Patenkinder, in diesem Schuljahr sind es vier. Die Eins-zu-Eins-Begleitung sei eine sehr schöne Ergänzung zum Unterricht, sagt Schulleiterin Stephanie Krause-Sauerwein. "Für die Lehrkräfte ist das eine Entlastung und für die Kinder eine große Bereicherung."

300 Lesepaten engagieren sich im Projekt Lesezeichen an 65 Münchner Schulen

Gedacht ist das Projekt Lesezeichen für Kinder, die eine derartige Unterstützung von niemandem sonst bekommen können. Insgesamt engagieren sich dafür 300 Lesepaten an 65 Münchner Schulen. Vor Corona seien es 400 gewesen, sagt Projektleiterin Sandra Hédiard. Sie suchen dringend neue Ehrenamtliche, denn immer wieder fragen Schulen nach Lesepaten.

Dass dieser Bedarf da ist, das sieht auch Stadtschulrat Florian Kraus (Grüne). "Wenn wir uns anschauen, dass durch die Corona-Pandemie im Bildungsbereich vorhandene Ungleichheiten verstärkt wurden, ist gerade jetzt der Bedarf an vielfältiger Unterstützung bei Schülerinnen und Schülern vorhanden", sagt er. Die Stadt unterstützt die Ehrenamtlichen: Mit der Freiwilligen-Agentur Tatendrang bietet sie kostenlose Fortbildungen für den Bereich Lernförderung oder Lernpatenschaft an.

Ehrenamtliche können viel leisten, können unterstützen, können bis zu einem gewissen Grad das bieten, was Schulen nicht leisten können. Eine individuelle Begleitung zum Beispiel, jede Woche eine Stunde Zeit nur für einen Schüler, so wie bei Hans-Jörg Begemann und Mark. Aber die freiwilligen Helfer haben auch ihre Grenzen.

"Freiwillige können keine Wissenslücken schließen, das müssen Lehrer tun", sagt Renate Volk von "Tatendrang". "Sie können weder Personalengpässe auffangen noch Betreuungsengpässe im Ganztag schließen." Kinder, die in verschiedenen Bereichen gefördert werden müssen, brauchen professionelle Unterstützung - Freiwillige sind da überfordert. "Hier muss die Politik dauerhafte Strukturen schaffen", sagt Volk. "Die Lehrkräfte bemühen sich sehr, aber es bräuchte mehr Personal an den Schulen und mehr individuelle Fördermöglichkeiten."

Matthias Kraemer engagiert sich mit Jutta Wache ehrenamtlich als Mediator an Schulen. (Foto: Robert Haas)

Den Lehrkräftemangel und die Unterrichtsausfälle könnten sie nicht ausgleichen, sagt auch Matthias Kraemer von "Seniorpartner in school". Aber seine Kollegin Jutta Wache und er sehen es als eine bürgerschaftliche Aufgabe, dabei mitzuhelfen, dass Schule gelingt. Sie sind die Vorsitzenden des Landesverbands Bayern und zwei von 100 ehrenamtlichen Mediatoren, die an 32 Münchner Grundschulen Schülerinnen und Schülern dabei helfen, Konflikte zu lösen; der Verein ist bundesweit aktiv an 340 Schulen.

"Schon dadurch, dass wir im Großeltern-Alter sind, sind wir im System Schule etwas Besonderes", sagt der 71-Jährige. Seit sieben Jahren ist er Mediator, Jutta Wache, 72, engagiert sich seit sechs Jahren. Sie suchen dringend neue Ehrenamtliche: ältere Menschen, die ein Interesse für Kinder haben, und daran, das Miteinander in der Gesellschaft zu verbessern.

Wer Mediator werden will, der muss sich festlegen. "Die Schule und die Kinder verlassen sich auf uns", sagt Kraemer. Wer die kostenlose, zwölftägige Ausbildung zum Schulmediator macht, der verpflichtet sich, eineinhalb Jahre an einem Tag der Woche an eine Schule zu gehen. Matthias Kraemer ist an einer Grundschule in Obersendling im Einsatz, Jutta Wache in Freimann. Wenn die Kinder zu ihnen kommen, dann geht es oft um Hänseleien, um Freundschaften und Ausgegrenzt-Sein.

Mobbing ist ein Fall für die Klassenleitung

Sie hören zu, suchen zusammen nach Lösungen. Die gibt es oft, aber nicht immer. Jutta Wache erzählt von drei Mädchen: zwei gute Freundinnen und eine dritte, die dabei sein wollte; das wollten aber die anderen nicht. "Meist entwickeln Kinder Lösungen", sagt sie. "Wenn sie keine finden, ist es wichtig, das auszuhalten." Manchmal helfe ein Einzelgespräch im Anschluss, zum Beispiel um Strategien zu besprechen, wie ein Kind Freunde finden kann. Auch für Schulmediatoren gibt es klare Zuständigkeitsgrenzen: Mobbing zum Beispiel ist ein Fall für die Klassenleitung und die Schule.

Zurück in der Lesestunde an der Ernst-Reuter-Grundschule: Die erste Doppelseite im Lese-Übungsheft ist geschafft. Auch er profitiere von seinem Ehrenamt, sagt Begemann. "Wenn ich aus der Schule raus gehe, dann spüre ich, dass diese Stunde dem Kind und mir sehr gut getan hat." Wichtig bei einer Patenschaft: zu sehen und zu betonen, was die Kinder schon gut können. Begemann sagt, dass Mark Russisch sprechen und Schach spielen kann - beides Dinge, die er selbst nicht kann. "Ich weiß nur "Danke" auf Russisch: Spasiba", sagt Begemann. "Ne sa schto", antwortet Mark ganz automatisch. Auf Russisch bedeutet das so viel wie: Da nicht für.

Wer Interesse hat, sich zu engagieren, kann sich an das Projekt Lesezeichen wenden, unter team@lesezeichen-muenchen.de oder unter der Telefonnummer 089/452 24 11 22. "Seniorpartner in School" planen ein Infotreffen am Dienstag, 15. November, von 16 bis 18 Uhr auf der Praterinsel 4.

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