Süddeutsche Zeitung

Präsenzunterricht an Münchner Schulen:"Jetzt ist es endlich mal wieder so, wie es sein sollte"

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Das erste Mal seit einem halben Jahr sehen sich die Klassen wieder vollständig im Unterricht. Bei den Kindern und Jugendlichen ist Aufregung zu spüren, Lehrer sprechen von einem "besonderen Tag".

Von Kathrin Aldenhoff, München

Es ist fünf vor acht, und Lehrerin Birgit Weiß wünscht den Drittklässlern einen wunderschönen guten Morgen. 23 Schülerinnen und Schüler antworten ihr, und zusammen rätseln die Kinder dann, wie lange es her ist, dass sie alle gemeinsam in diesem Klassenzimmer saßen. 500 Monate, ruft ein Kind. 88 Jahre, schätzt ein anderes. Fast ein Jahr vielleicht, mutmaßt ein dritter Schüler eher vorsichtig. Birgit Weiß löst das Rätsel auf: fünfeinhalb Monate. So lange war die Klasse 3g der Grundschule Klenzestraße nicht beisammen.

An diesem Montag nach den Pfingstferien kehren Münchens Schülerinnen und Schüler zurück in ihre Klassenzimmer, und an der Grundschule Klenzestraße tun sie das dicht gedrängt, mit Maske über Mund und Nase, plappernd und lachend. Alle Schüler auf einmal in der Schule - das gab es in München seit Monaten nicht mehr. Am 14. Dezember 2020 hatte Bayerns Kultusminister Michael Piazolo mitgeteilt, dass die Weihnachtsferien pandemiebedingt schon am 16. Dezember beginnen, nur die Abschlussklassen hatten drei Tage länger Distanzunterricht. Da waren in München schon die Klassen ab der achten Jahrgangsstufe im Distanzunterricht, weil der Grenzwert von 200 überschritten war. Und nun: Kein Distanzunterricht mehr, kein Wechselunterricht, alle Plätze im Klassenzimmer sind wieder besetzt, nun muss kein Abstand mehr gehalten werden.

"Ein besonderer Tag" sei das, sagt Lehrerin Birgit Weiß zu Beginn der ersten Stunde am Montag. Weil sie nun wieder alle in einem Klassenzimmer lernen, weil die Schule wieder voll ist. Auf dem Stundenplan steht Mathematik, aber zunächst wird eine neue Schülerin begrüßt, dann fragt Birgit Weiß, wer wann aus dem Urlaub gekommen ist und schickt die Schüler, die gerade erst aus Italien, Griechenland oder Mallorca zurückgekommen sind und kein Testergebnis dabei haben, ins Sekretariat, um das zu klären. Die anderen Schüler testen sich auf das Coronavirus, und während sie auf die Ergebnisse warten, fragt die Lehrerin die Kinder: Was war gut an der Coronazeit, was war schlecht?

Die Kinder erzählen, dass sie es schön fanden, gemeinsam Hausaufgaben zu machen, dass sie mehr Zeit mit ihrer Familie hatten, mehr Zeit zum Spielen - denn der Ganztagsunterricht dauert sonst bis 16 Uhr. Sie sagen aber auch, dass sie sich allein fühlten. Dass sie es schade fanden, nicht in die Schule gehen zu können. Dass sie zu Hause nicht so gut arbeiten konnten, dass sie sich mit ihrer Mutter über das Homeschooling gestritten haben. Dass sie ihre Freunde vermisst haben. Die Kinder erzählen von der Sorge um ihre Omas, erzählen Geschichten von Quarantäne und Krankheit und von ihrer Angst, sich angesteckt zu haben. Und dann, um 8.45 Uhr, schreibt Birgit Weiß das Datum ans Whiteboard und das Thema der heutigen Stunde: Malnehmen und Teilen. Sie wiederholen das Einmaleins, zum Aufwärmen für den Kopf, sagt die Lehrerin. Es ist ruhig in der Klasse, die Schülerinnen und Schüler schreiben Zahlenreihen in ihre Hefte, Birgit Weiß läuft durch die Reihen, guckt über die Schulter, beantwortet Fragen.

Das sei die Normalität, sagt Schulleiter Martin Schmid, nicht das Besondere. "Der Betrieb läuft wieder so wie vorher und wir sind froh, wenn es normal bleibt." Er hoffe, dass sie es bis zu den Sommerferien schaffen. Aber, sagt er und schüttelt den Kopf, wenn er sieht, wo die Familien überall im Urlaub waren, dass manche nicht wie verlangt ein negatives Testergebnis mitgebracht haben. Bei fast 20 Kindern mussten sie die Eltern anrufen, nachfragen. Dass sich alle an die Regeln halten, sagt er, das sei wichtig für das soziale Miteinander.

Am Michaeli-Gymnasium in Berg am Laim sind alle 1300 Schüler zurück in der Schule, "das ganze Dorf ist wieder da", wie Schulleiter Frank Jung sagt. Die Schülerinnen und Schüler sitzen in der Pause in Gruppen auf den Bänken im Hof, stehen am Kiosk an, rennen durch die Gänge. In der Klasse 5e ist die Stimmung am Montagvormittag ausgelassen. Doppelstunde Englisch, Lehrerin Halina Goldschalt fragt die Klasse nach Lebensmitteln, die sie einkaufen, und nach ihrer Lieblingseissorte. Wer beim Vorlesen an die Reihe kommt und nicht weiß, an welcher Stelle sie sind, soll ein lustiges Tiergeräusch machen, I-ah macht ein Junge.

Lucia sitzt in der letzten Reihe, die Zehnjährige sagt, es sei ungewohnt, wieder alle um sich zu haben. Aber auch schön, wieder jemanden neben sich sitzen zu haben, das mit dem Abstand halten sei merkwürdig gewesen, sagt sie: "Jetzt ist es endlich mal wieder so, wie es sein sollte." 32 Schüler sitzen nun wieder in dem Klassenzimmer und Lehrerin Halina Goldschalt stellt zum Ende der Doppelstunde fest: "Wir müssen uns die nächsten Wochen viel mehr bewegen." Sieben Minuten dauert die Englischstunde noch, die Lehrerin ermahnt einen Schüler: "Maske hoch, Konzentration nach vorne!"

In den eineinhalb Stunden vorher sind zwei Schüler aufgesprungen, während sie ein kurzes Video angeschaut haben, um den Gang der Figuren im Video zu imitieren, haben auf einmal alle durcheinander erzählt, welches Instrument sie spielen - und ein Schüler hat mittendrin gefragt, wann sie die Schulaufgabe schreiben. Halina Goldschalt hat die Schüler gebeten, sich zu setzen, hat sich eine Weile angehört, wer wann Gitarre übt, bevor sie wieder zum eigentlichen Thema übergegangen ist - present progressive - und hat auch die Zwischenfrage beantwortet: dass es in diesem Schuljahr keine benotete Schulaufgabe mehr geben wird. Aber vielleicht einen Probetest.

"Darauf war ich nicht vorbereitet, dass die Kinder solche Schwierigkeiten haben würden, sich zu konzentrieren", sagt Halina Goldschalt nach dem Unterricht. Dass sie nicht mehr zwei Stunden still sitzen können. Sie hat sie zwischendurch aufstehen, auf der Stelle hüpfen und die Arme strecken lassen - Übungen, die sie sonst am Anfang der fünften Klasse mit ihren Schülern macht. Nicht gegen Ende des Schuljahres.

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SZ vom 08.06.2021
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