Bilanz des Schuljahrs:"Fast alle gehen mit hängender Zunge in die Sommerferien"

Bilanz des Schuljahrs: Nicht alle haben das Klassenziel erreicht: Dieser Junge sitzt enttäuscht mit seinem Zeugnis auf der Treppe.

Nicht alle haben das Klassenziel erreicht: Dieser Junge sitzt enttäuscht mit seinem Zeugnis auf der Treppe.

(Foto: Bernhard Classen/imago images)

Während die Leistungsniveaus in den Schulen hoch geblieben sind, lassen sich soziale Defizite und die Erschöpfung in der Schulfamilie nicht mehr übersehen. Leidtragende der Pandemie sind vor allem Kinder, die ohnehin benachteiligt sind.

Von Kathrin Aldenhoff

Es ist die letzte Woche vor Beginn der Sommerferien, es ist heiß in München, auf Korfu auch - dorthin ist Stadtschülervertreterin Naomi Hinkel nach dem bestandenen Abitur gefahren. 45 Jugendliche ihrer Jahrgangsstufe haben es ebenfalls geschafft, einer nicht. Sie ist zufrieden, aber sie weiß: So geht es nicht allen Schülerinnen und Schülern. "Von anderen Schulen weiß ich, dass viele in diesem Jahr nicht gut mitgekommen sind. Die Abschlussprüfungen waren beinahe wieder wie sonst, nur mit ein bisschen mehr Zeit", sagt Naomi Hinkel. "Für viele hat das sehr viel Stress bedeutet."

Dieses Schuljahr war normaler als die beiden zuvor: Die Schulen blieben offen, Abschlussprüfungen fanden zum gewohnten Zeitpunkt statt, der bayerische Abitur-Schnitt lag mit 2,15 auf dem Vorjahresniveau. Es war ein Schuljahr voller Coronatests, und eines, in dem Schulleiter, Lehrerinnen und Eltern lange und teils umsonst auf PCR-Testergebnisse warteten. Vor allem aber gab es in diesem Jahr zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie wieder Schulsommerfeste, Abifeiern und Schullandheim-Aufenthalte.

Die Kinder müssen wieder das Lernen lernen

Wie wichtig es ist, dass die Kinder wieder zu lernen lernen und sich wieder in einer Gruppe zurechtzufinden, darüber wurde viel gesprochen. Und auch über Lernlücken: Es wurden Fördermaßnahmen aufgesetzt, zugleich fehlten - nicht nur, aber auch - wegen Covid-Erkrankungen und Isolationszeiten immer wieder Schülerinnen und Schüler, und vor allem auch Lehrerinnen und Lehrer. Alle sprechen vom Lehrermangel, der Leiter einer Münchner Mittelschule spricht von einem immens hohen Unterrichtsausfall. "Das geht auf Kosten der Schüler", sagt er.

Stadtschülervertreterin Naomi Hinkel erzählt, sie wisse von Schülern, die freiwillig die Klasse wiederholten, weil sie überfordert seien. Eine Münchner Kinderärztin berichtet, dieses Jahr hätten ihr deutlich mehr Kinder als sonst erzählt, dass sie selbst oder viele ihrer Mitschüler sitzenblieben.

Bilanz des Schuljahrs: Der Zeugnistag kann zum Trauma werden.

Der Zeugnistag kann zum Trauma werden.

(Foto: Thomas Imo/imago images)

Wie viele Kinder und Jugendliche die Klasse wiederholen, ist unklar; das Kultusministerium veröffentlicht die Zahlen erst im Frühjahr kommenden Jahres. Das Referat für Bildung und Sport teilt mit, sehr viele Schülerinnen und Schüler an den städtischen Realschulen, der Orientierungsstufe und der Gesamtschule, deren Versetzung gefährdet war, hätten mit hohen Anstrengungen das Klassenziel erreicht. Die Leiterin des Staatlichen Schulamtes hat keine Kenntnis darüber, dass es mehr Wiederholungen an den Mittelschulen gäbe. Doch an der Münchner Volkshochschule rechnen sie damit, dass die Nachfrage, Schulabschlüsse extern nachzuholen, für das kommende Schuljahr steigen wird - deshalb wird es einen zusätzlichen Abendkurs geben, der zum erfolgreichen Mittelschulabschluss oder Quali führt.

"Ich hatte damit gerechnet, dass die Abschlussprüfungen dramatisch ausfallen", sagt Philipp Volkmer, Leiter der Carl-von-Linde-Realschule. So war es aber nicht, mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler habe sogar eine Abschlussnote mit einer Eins vor dem Komma. Drei von 130 haben nicht bestanden. Insgesamt gibt es dieses Jahr an den städtischen Realschulen eine Abschlussquote von knapp 96 Prozent. "Wir hatten viele sehr gute Schüler, aber auch viele schwache. Und weniger Jugendliche mit Leistungen im mittleren Bereich", sagt Volkmer.

Die Zahl der Schulverweigerer und der Fehlstunden habe zugenommen, sagt Volkmer. Und nicht alle, die in den vergangenen beiden Schuljahren auf Probe vorrückten, haben es geschafft, ihre Lücken zu schließen. In den meisten Klassen seien es ein bis drei Schülerinnen und Schüler, die wiederholen müssten. Einige Kinder seien an die Mittelschule gewechselt, ein paar mehr als sonst seien vom Gymnasium auf die Realschule gekommen - das habe zugenommen, aber nicht in einem erschreckenden Ausmaß, sagt Volkmer.

Bilanz des Schuljahrs: Endlich auch wieder normaler Schulunterricht: Im Michaeli-Gymnasium war das Jahr auch für die Lehrkräfte anstrengend.

Endlich auch wieder normaler Schulunterricht: Im Michaeli-Gymnasium war das Jahr auch für die Lehrkräfte anstrengend.

(Foto: Florian Peljak)

Ähnlich sieht es am Michaeli-Gymnasium aus: Einige Kinder mehr als sonst würden nächstes Jahr die Klasse wiederholen, sagt Rektor Frank Jung. Die Zeugnisse seien ähnlich ausgefallen wie in den Vorjahren, auch wenn noch nicht alle Lernlücken aufgeholt seien. Worin sich alle einig sind: Für Lehrkräfte war es ein anstrengendes Jahr. Es gab viele Vertretungsstunden wegen hoher Krankenzahlen, keine Lehrer in der mobilen Reserve, die hätten einspringen können. Weil Schüler krank waren, mussten Schulaufgaben-Termine verschoben, Nachholprüfungen aufgesetzt werden. "Fast alle gehen mit hängender Zunge in die Sommerferien", sagt Jung.

"Dass es in diesem Schuljahr an vielen Schulen gut lief, lag am tollen Einsatz der Lehrer", sagt Michaela Fellner, Leiterin der Grundschule am Bauhausplatz. Sie seien glücklich gewesen, dass wieder normaler Unterricht möglich gewesen sei. Der Personalnotstand gehe aber an die Substanz. Sie bemerke eine tiefe und besorgniserregende Erschöpfung. Bei den Kindern sieht sie die größten Defizite im sozialen Bereich, im Umgang miteinander. "Da muss einiges aufgeholt werden." Die Leistungen der Kinder seien vergleichbar zu den Vorjahren, die Übertrittsquote sei nahezu identisch zu den Vorjahren. Weil der Online-Unterricht bei ihnen gut gelaufen sei, Eltern und Lehrkräfte engagiert gewesen und weil die Leistungserhebungen angepasst worden seien. Fellner sagt: "Wir sind guter Dinge, dass die Kinder, die den Übertritt geschafft haben, ihren Weg auch gut machen können."

Jetzt müssen die Schulen auf den Herbst vorbereitet werden

"Die inhaltlichen Defizite bei den Kindern holen wir auf", sagt Michael Hoderlein-Rein, Leiter der Grundschule Berg am Laim. Schwieriger zu beheben seien die sozialen Defizite. Er sieht, dass vor allem die Kinder, die ohnehin benachteiligt sind, die Leidtragenden der Pandemie sind. "Das macht uns wirklich Sorgen."

Wichtig wäre es jetzt, die Schulen auf den Herbst vorzubereiten, sagt Martina Borgendale, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bayern. Luftfilter und Lehrer-Laptops warten, Masken und Pooltests organisieren. "Im Moment sind wir weder für den Distanz- noch für den Präsenzunterricht vorbereitet", sagt sie. Die Ferien beginnen - und doch bleibt einiges zu tun.

Bei Zeugnis- oder Notenkummer hilft die Nummer gegen Kummer, 11 61 11 für Schüler oder 0800-111 05 50 für Eltern, oder auch die Online-Beratungsstelle der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung.

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