Süddeutsche Zeitung

Handwerk:Wissen, wo der Schuh drückt

Lesezeit: 4 Min.

Das Schuhhaus Seidl in Schwabing ist 100 Jahre alt und hat es durch einige Krisen geschafft. Thomas Seidl hat sich auf schwierige Füße spezialisiert.

Von Martina Scherf

Die Frühlingskollektion war längst in die Auslage geräumt. Sneaker, Slipper, Ballerinas, in Rot, Gelb, Grün, da kam der Aprilschnee wahrlich nicht gelegen. An solchen nasskalten Tagen kauft keiner ein. "Das Schuhgeschäft ist extrem wetterabhängig", sagt Thomas Seidl. Aber so war es schon immer. Seit 100 Jahren gibt es Schuh Seidl in Schwabing, und sie haben schon andere Krisen überlebt. Sogar die Corona-Pandemie. Der große farbenfrohe Laden ist einer der letzten Familienbetriebe in der Gegend. Aufgeben kam für Thomas Seidl nie in Frage.

Eine junge Mutter steht mit ihrer zweijährigen Tochter zwischen den Kinderschuhen. Gefallen dir die hellblauen? Oder lieber die roten mit dem Blümchen? Die Kleine hat keine Lust mehr, probiert aber brav an. Seidl gibt geduldig den einen oder anderen Rat. An der Kasse nochmal ein längerer Plausch, wann sollen sie wiederkommen, wann spürt man, ob ein Kinderschuh zu klein ist? Es soll ein Fingerbreit Platz sein, sagt Seidl, kommen Sie einfach vorbei, wir kontrollieren das. Die Mutter schiebt zufrieden den Kinderwagen hinaus.

Zu Schuh Seidl kommen Mütter, Großmütter, Businessleute und Menschen mit "schwierigen Füßen", sagt Thomas Seidl, 57. "Wir legen sehr viel Wert auf Beratung." Seine Mitarbeiter kennen sich aus mit Arthrose, Ballen und Überbeinen, sie wissen, wo der Schuh drückt, kennen von manchen Kunden die Familiengeschichte. Sie dehnen und weiten Schuhe, führen extra bequeme Marken und arbeiten mit einem Orthopädie-Schuhmacher zusammen.

Darauf haben sie sich spezialisiert, als sie vor 20 Jahren entschieden, vom kleinen Laden, den Seidls Großvater 1921 gleich um die Ecke gegründet hatte, in die Schleißheimer Straße umzuziehen. Eine Immobiliengesellschaft hatte das alte Haus gekauft und die Miete verdoppelt. Der Umzug in das dreimal so große Geschäft war ein Wagnis. Aber während ringsum Einzelhändler aufgeben, halten die Seidls mit intensiver Kundenbetreuung und einem Rundum-Service ihren Laden buchstäblich am Laufen. Sie haben eine eigene Werkstatt und einen Schuhputzservice für alle Materialien und Farben.

Auch einige der Prominenten aus Film und Fernsehen, die in der Nähe wohnen, kaufen hier ein. Wenn der Kabarettist, die Moderatorin oder ein bekannter Virologe kommen, "dann ist das natürlich immer interessant, mit so jemandem zu plaudern", sagt Seidl. Bully Herbig drehte vor Jahren mal eine Folge der Bully-Parade bei Schuh Seidl.

Hinter der Kasse hängt ein Foto von den Großeltern und ihren drei Mitarbeitern vor dem Laden in der Clemensstraße. "Der Opa hat jeden Schuh von Hand gemacht", erzählt Seidl und geht in die Werkstatt. Dort stehen noch die museumsreifen Maschinen, sie werden gehegt und gepflegt und tun bis heute ihren Dienst. Seidl holt eine vergilbte Kladde mit Fotos und Dokumenten heraus. Auch ein Mietbuch ist noch da. In der Weltwirtschaftskrise explodierte die Inflation. Die Miete stieg in wenigen Wochen von 80 Reichsmark auf 15210 Milliarden Mark. "Verrückt, oder?", sagt Thomas Seidl. "Wenn der Opa an einem Tag etwas verdient hatte, musste er ganz schnell Leder kaufen gehen, sonst war es am nächsten Tag doppelt so teuer."

Im Zweiten Weltkrieg schlug eine Bombe in das Haus in der Clemensstraße ein, die Wohnung der Großeltern war zerstört, "nur das Hitlerbild blieb ganz. Das hat der Opa dann in hohem Bogen zum Fenster rausgeschmissen", erzählt Seidl. Der Laden im Erdgeschoss blieb zum Glück unversehrt. Als der Großvater am Kriegsende noch an die Front geschickt werden sollte, sammelte seine Frau Unterschriften im ganzen Viertel und erreichte, dass der Schuhmacher als kriegswichtiger Versorger eingestuft wurde. Er durfte weiter Schuhe machen. Sein Sohn war noch zu jung für den Krieg.

Thomas Seidl selbst wollte eigentlich lieber einen technischen Beruf lernen. Aber er ließ sich dann doch überreden, das Geschäft zu übernehmen. Der Vater stand noch mit 85 im Laden, erzählt der Sohn, "aber er übertrug mir sehr schnell die Verantwortung". Das hat gut geklappt. Seidl ist ein kommunikativer Mensch und lässt sich von schwierigen Zeiten nicht unterkriegen. "Aber der Corona-Lockdown hat uns schon schlaflose Nächte gekostet", erzählt er. "Zum ersten Mal in der Geschichte war der Laden zu. Das gab's nicht mal im Krieg." Die Ware war bestellt und bezahlt, aber es kamen keine Einnahmen mehr.

"Eine Woche später bist du das erste Mal aufs Dach g'stiegen", sagt jetzt Seidls Frau Christiane. Die studierte Betriebswirtin führt mit ihm das Geschäft. Tatsächlich rief ihr Mann einen befreundeten Dachdecker an und fragte: Kannst du mich brauchen? Klar, sagte der, technisch begabte Handwerker sind rar. Seither arbeitet Seidl mindestens einmal die Woche auf Hausdächern. "Macht Spaß", sagt er und grinst. Gerade bauen sie die Villa eines Filmschauspielers fertig.

Da gibt's wieder was zu erzählen. Vor allem gibt so ein zweites Standbein aber eine gewisse Sicherheit. "Sonst hätten wir Personal entlassen müssen", sagt Christiane Seidl. Die drei Mitarbeiter sind schon so lange dabei, dass sie fast zur Familie gehören. Sie machen gemeinsam Betriebsausflüge, gehen mal in den Biergarten und feiern Weihnachten. "Es ist ein schönes Arbeiten", sagt Christiane Seidl, so wie es früher war. Und doch ist das Ehepaar froh, dass seine beiden Töchter studieren und andere Berufe wählen. "Der Einzelhandel bedeutet viel Arbeit, wenig Freizeit und eine ungewisse Zukunft."

Die Seidls haben es auch mit Online-Handel probiert, sie bieten das immer noch an, sagt Thomas Seidl, "aber dabei verdienst du rein gar nichts". Die Hälfte der Ware komme zurück, der Aufwand sei immens, "aber den Gewinn streichen Amazon oder Zalando ein". Da investieren sie ihre Zeit lieber in die Beratung ihrer Kunden. Bieten den Ehemännern Espresso an, während die Frauen Schuhe probieren. Beraten bei Hüft- oder Knieproblemen. Der Trend gehe ohnehin zu komfortablen Schuhen, sagt Seidl, "Frauen machen sich heute ihre Füße nicht mehr mit Stöckelschuhen kaputt". Man trägt ja jetzt sogar Sneaker zum Kostüm. Aber modisch müssen die Treter trotzdem sein. Neulich war eine 86-Jährige da und sagte: "Bequem schon, aber bitte keine Oma-Schuhe." Da haben wir genau das Richtige für Sie, antwortete Thomas Seidl.

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