Ihre langen Haare wehen im Wind. Ein tiefer Seufzer, dann geht Amelie N., 17, auf die Bühne. Die zierliche Schülerin hat eine laute, eine eindringliche Stimme. „Wollen wir ein System, das sagt: Wir erwischen Dich, wenn Du was nicht kannst?“, ruft sie in das Mikrofon. „Wollen wir ein System, das nur gemacht ist, um uns zu bewerten, zu testen?“ Die Schüler, Eltern und auch Lehrer, die auf den Wittelsbacherplatz gekommen sind, um Amelies Petition „Schluss mit Abfragen und Exen“ zu unterstützen, schwenken Fahnen und rufen genauso laut. „Nein!“.
Mit 1000 Besuchern haben Amelie und ihr Team gerechnet. Ob es so viele sind, lässt sich schwer sagen an diesem sonnigen, aber kalten Nachmittag. Die Polizei vor Ort schätzt 200. Aber es sind mit Sicherheit mehr: Väter und Mütter mit ihren Kindern, Opas mit ihren Enkeln, Grundschüler, die noch gar keine Exen schreiben, aber schon mal dafür protestieren, dass es in Bayern keine mehr gibt.
54 351 Menschen haben ihre Petition bislang unterschrieben. Vor neun Monaten hat sie die Schülerin auf den Weg gebracht. Mit zehn Unterschriften fing alles an. Die Unterzeichner fordern die sofortige Abschaffung von unangekündigten Stegreifaufgaben, alternative und lebenspraktische Leistungsnachweise und eine positive Lern- und Fehlerkultur. Am Dienstag wird die Petition der Vorsitzenden des Bildungsausschusses im Landtag, Ute Eiling-Hütig (CSU) übergeben.
So viele Unterschriften, und jetzt die Demo. „Dass wir so weit gekommen sind, ist krass“, sagt Amelie N. Eigentlich müsse sie das alles noch richtig realisieren. Aber letztlich sei für sie auch nicht die Zahl der Menschen bei der Demo entscheidend. Sondern dass sich im bayerischen Schulsystem etwas ändere. Und zwar schnell. Ein System, das so viele unter Druck setze, nur damit sie Leitung erbrächten, sei „einfach absurd“. „Wir unterstützen die Initiative von Amelie aus vollem Herzen“, sagt Martin Löwe, 57, vom Bayerischen Elternverband. Meist hätten Exen und Abfragen doch nur einen disziplinarischen Hintergrund und trügen letztlich nicht zum Lernerfolg bei.
„Wir sind keine Hexen und deshalb gegen unangekündigte Exen“, steht auf einem Plakat. Schulisch alles unter einen Hut zu bringen, kostet Kraft, manchmal sogar soziale Kontakte, wie der 17-jährige Viktor aus Regensburg erklärt. Viele seiner Freunde zögen sich zurück, weil sie lernen müssten, damit sie überhaupt alles schaffen könnten. Der elfjährige Markus geht auf das Gisela-Gymnasium und findet Exen „einfach nur stressig“. Weil man ja nie wisse, was abgefragt werde, müsse man alles lernen. Eigentlich dann auch für jedes Fach. „Das ist zu viel.“ Felicitas Roth vom Willi-Graf-Gymnasium geht in die fünfte Klasse. Sie hat als neues Sprachfach Englisch. „Eine neue Sprache zu lernen ist eh schon nicht leicht, und dann ständig Exen und Abfragen – da macht Lernen keinen Spaß mehr.“

Bildung:Wie viel Druck braucht Schule?
In Bayern diskutieren Schüler, Eltern, Lehrkräfte und Politik über die Abschaffung unangekündigter Prüfungen. Dahinter steht die Frage, wie man Kinder und Jugendliche zum nachhaltigen Lernen bringt.
„Motivieren, statt Angst machen“. Auch das ist ein Slogan auf einem Plakat. Angst – davon sprechen viele Schülerinnen und Schülern an diesem Nachmittag. Die Angst, abgefragt zu werden, die Angst, zu versagen, die Angst vor einer schlechten Note. Schule müsse ein sicherer Ort sein, an dem man keine Angst zu haben brauche, sagt die 18-jährige Stella-Marie, die erzählt, dass sie eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) habe, sich immer schwergetan habe mit den dauernden Leistungsabfragen und irgendwann gar nicht mehr in die Schule wollte.
Oliver Kunkel ist seit vielen Jahren Lehrer in Schweinfurt und lehnt Exen als Schreck- und Druckmittel ab. Seiner Meinung nach arbeite sich das bayerische Schulsystem an „formalen Notenlisten“ ab. „Das ist doch gaga“, sagt der 57-Jährige, der sich viel mit Schulentwicklung beschäftigt. Wichtiger sei es doch, dass die Schüler Feedback bekämen, dass sie sich selbst regelmäßig testen könnten, wo sie stehen. Und der Lehrer genau das unterstützt.
Thomas Gottfried, Lehrer und Vater, wie er betont, steht an diesem Nachmittag vermutlich mit seiner Meinung alleine da. Er lehnt diesen pädagogischen „Kuschelkurs“ ab, wie er sagt. Exen sicherten kontinuierliches Arbeiten der Schüler. „Wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft. Mit Druck umzugehen, gehört da dazu.“ Eine Ansicht, die für Diskussionsstoff sorgt.
Druck. Genau das ist der Grund, warum Amelie N. ihre Petition gestartet hat. Der Druck müsse raus. Studien hätten doch erwiesen, dass Druck und Angst keine besseren Lernerfolge erzielten, sagt sie. „Wenn ich merke, dass all das, was ich lernen muss, auch mit meiner Welt zu tun hat, dass es sinnvoll ist, dann lerne ich gerne.“ Und sie ruft in das Mikrofon: „Wann wollt ihr, dass die Exen abgeschafft werden?“ „Jetzt!“, rufen alle. „Jetzt!“
Hinweis der Redaktion: In einer ersten Fassung des Textes war die Zahl der Unterstützer der Petition mit knapp 58 000 angegeben.