Süddeutsche Zeitung

München:Schönheit im Verblassen

Rita Eckart ließ Menschen weltweit mit Löschstift auf Tinte Mandalas zeichnen. In Flüchtlingsheimen, Slums und Kliniken entstanden so Tausende blauweiße Fliesen

Von Jutta Czeguhn

Blaue Tinte, ein breiter Pinsel, ein Löschstift. "Das ist alles, was man braucht", sagt Rita Eckart. Sie taucht die weichen Pinselborsten in das Marmeladenglas auf ihrem großen Ateliertisch. Dann verteilt sie die Flüssigkeit mit sachten, gleichmäßigen Strichen über ein Blatt Papier, das exakt die Maße 15 mal 15 Zentimeter hat, also in etwa die Größe einer handelsüblichen Wandfliese. Rasch haben die Fasern die Tinte aufgezogen. Nun greift sie zum Löschstift. Sie setzt im Zentrum des Quadrats an. Weiße Linien eines gleichschenkeligen Dreiecks erscheinen auf dem Blau, dann Ornamente, die sich nach den Rändern hin in Symmetrie ausdehnen. "Man macht nie zweimal das Gleiche", sagt die Kunsttherapeutin, 500 der blauweißen Papierkacheln hat sie in den vergangenen Monaten angefertigt. Doch müssen es Tausende sein, die man in ihrem Obermenzinger Dachatelier findet, gestapelt oder an Kartonwände geklebt.

Eckart ist in den letzten Vorbereitungen zu ihrer Ausstellung "Simply blue", ein weltumspannendes Sozialkunstprojekt, das von 7. Dezember an in der Galerie von Anne Sommer-Solheim an der Gassnerstraße 21 gezeigt wird. Menschen in 28 Ländern der Erde - Kinder, Frauen, Männer, Senioren - haben mitgearbeitet. In dicken Umschlägen mit exotischen Briefmarken aus Malaysia, Singapur, Russland, der Türkei, Kenia oder Saudi Arabien trafen über 5000 papierleichte Fliesen bei ihr ein. Sie bilden nun Türmchen auf dem weißem Tisch, sind geordnet nach Weltregionen. Es finden sich da sogar Länder, die offiziell gar nicht existieren dürfen wie Kurdistan und Palästina, oder die im Moment im Chaos versinken wie Syrien oder Afghanistan. Entstanden sind die filigranen Mandalas in Flüchtlingsunterkünften, Slums, Heimen, Kliniken, im Kirchenasyl und in Gefängnissen.

Für Rita Eckart ist die blauweiße Kachel der "kleinste gemeinsame kulturelle Nenner". Von Sibirien bis in den Orient, von Europa bis nach Asien und Südamerika, überall gebe es diese Fliesen, würden Menschen in ihnen ihre eigene Kultur wieder erkennen. Das sei eine tröstliche Erfahrung. Eckart ist gebürtige Ungarin, mit 21 Jahren kam sie lange vor der Wende nach Deutschland. Die Mutter von vier Kindern hat viel von der Welt gesehen, ihr Mann arbeitete in der Entwicklungshilfe, fünf Jahre hat die Familie beispielsweise in Algerien gelebt. Sie selbst ist regelmäßig für die Hilfsorganisation "Start international e. V." zu Nothilfe-Einsätzen in Krisengebieten unterwegs. Als 2015 die Fluchtwelle nach Europa kam, arbeitete die Kunsttherapeutin gerade in Nepal mit Opfern des verheerenden Erdbebens. "In Kathmandu, wo so viel zerstört war, saßen Mönche einfach da und zeichneten in Seelenfrieden diese Mandalas", erzählt sie. "Ich habe gesehen, welche innere Struktur das den Menschen in so einer Seelenlage geben kann." Wieso das so ist, kann sie nur vermuten, womöglich sei es die Sehnsucht nach Harmonie, die in jedem steckt.

Zurück in Deutschland, traf sie in einem Erstaufnahmelager in Puchheim auf die seelische Not von Geflüchteten aus Syrien oder Myanmar. Sie musste beobachten, wie schwer es für die freiwilligen Helfer war, sich mit den Traumatisierten in eine Beziehung zu setzen, zumal die Menschen dort ja nie lange blieben, ständig verlegt wurden. Eckart kamen die Mandalas der Mönche wieder in den Sinn, die Schlichtheit und Vollkommenheit des Quadrats. "Das erste Papier habe ich gespendet bekommen", sagt sie. Dazu Tinte, diese uralte Schreibflüssigkeit, die schon auf Papyrusrollen verwendet wurde. Und das Blau, "nach Umfragen die beliebteste Farbe unserer Zeit, beruhigend", weiß Eckart. Und natürlich Löschstifte. Möglichst einfach sollte alles sein, "simply blue".

Eckart tritt an eine der großen Leichtbauplatten in ihrem Atelier, die sie mit den kleinen Fliesen "gekachelt" hat. 36 Stellwände werden es in der Ausstellung insgesamt sein. Sie zeigt auf eine der Fliesen. Ein junger Syrer habe sie in der Puchheimer Unterkunft gemalt. Einen Tag zuvor sei er mit geschwollenen Füßen dort angekommen, erinnert sie sich. Man sieht im Zentrum ein Kreuz aus vier Herzen, die von großen Blütenblättern umschlossen werden, außerhalb der Blumenstruktur schwimmen geometrische Formen. Eckart hat ihren Zeichnern nur wenige Vorgaben gemacht: Da ist die zentrierte Gestaltung, von innen nach außen oder von außen nach innen. Und es sollten möglichst keine Schriftzeichen, religiösen Symbole oder politische Stellungnahmen verwendet werden. "Das wurde nicht ganz durchgehalten", sagt sie. Fatimas Hand etwa, ein Schutzsymbol im Islam, taucht immer wieder auf. "Das habe ich akzeptiert, denn Menschen, denen nichts geblieben ist, kann man das nicht wegnehmen."

Was in der Unterkunft in Puchheim als meditative Übung für die Geflüchteten begann, habe dann "Flügel bekommen". Über Start international ist Rita Eckart mit vielen Kollegen, etwa ihren Mitorganisatorinnen Apple Wong und Anne Beauché, weltweit vernetzt. Die Multiplikatoren mussten sich bei ihr als Teilnehmer des "Simply blue"-Projekts registrieren und erhielten dann regelmäßig über die sozialen Medien Informationen. Von April bis September entstanden so weltweit Fliesen, 2000 werden nun in der Ausstellung in Nymphenburg zu sehen sein.

Blau ist nicht gleich Blau. Die Tinte sei in jedem Land anders beschaffen, in China und Malaysia beispielsweise etwas gräulicher, erklärt Eckart. Man kann also alle Schattierungen der Farbe in den Fliesen finden, bis hin zum blaugrünem Türkis. Auf den Tafeln gibt es keine Ländergrenzen, Syrien kann da neben Sibirien seinen Platz haben. Es gibt meisterhaft elaborierte Fliesen aus Indien, solche mit überbordender Ornamentik, mit kühnen Mustern, andere sind von abstrakter Strenge, kindlicher Fröhlichkeit oder aber Ausdruck einer geschundenen Seele. Die Kacheln tragen keine Namen, das gehört zum Konzept. Doch steckt hinter jedem Motiv eine Geschichte. Über ihre Projektpartner hat Rita Eckart von vielen dieser Schicksale erfahren. Sie kann davon erzählen, wenn man sie fragt, vom Waisenkind im Slum von Nairobi, vom Iraker im schwedischen Kirchenasyl, dem Iraner, der selbst an Massenerschießungen teilgenommen hat.

Die Ausstellung mit den blauweißen Fliesen wird von München aus weiter wandern, nächster Ort ist im kommenden März die Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Bonn, auch Paris hat Interesse angemeldet. Und in Kuala Lumpur, Malaysia, ist ebenfalls eine Ausstellung geplant. Die blaue Tinte auf dem Papierkacheln, sagt Rita Eckart, werde nach und nach verblassen. So wie auch das Leid eines Menschen vielleicht allmählich nachlassen kann.

"Simply blue", 7. Dezember bis 22. Februar, Praxis für Kunst und Kunsttherapie Anne Sommer-Solheim, Gassnerstraße 21, in Nymphenburg. Öffnungszeiten: jeweils 15.30 bis 18 Uhr an folgenden Tagen: 14. und 21. Dezember, 11.,18. und 25. Januar, sowie 1.,8., 15. und 22. Februar.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2016
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