SZ-Adventskalender:Ein falscher Schritt bringt das Leben aus dem Tritt

SZ-Adventskalender: Helmut K. sitzt im Rollstuhl. Wenn er von den vergangenen drei Jahren spricht, fällt sehr oft das Wort "bitter".

Helmut K. sitzt im Rollstuhl. Wenn er von den vergangenen drei Jahren spricht, fällt sehr oft das Wort "bitter".

(Foto: Catherina Hess)

Binnen dreier Jahre wird aus dem sorglosen Handwerker Helmut K. ein mittelloser Rentner im Rollstuhl. Wie alles mit einem Bänderriss begonnen hat und was ihm jetzt noch helfen kann.

Von Sabine Buchwald

Es war ein falscher Schritt, der Helmut K.s Leben aus dem Tritt gebracht hat. Er erinnert sich noch gut an diesen einen Moment im Oktober 2019. Es war gegen Abend und die Arbeit für den Tag erledigt. Er hatte seinen Werkzeugkasten geschultert und war dabei, sich von seinem Kunden zu verabschieden. Dann kam dieser eine Schritt, ein Fehltritt, und es schnalzte in seinem Fuß. Außenbandriss, erfuhr K. später bei der Untersuchung. Schmerzhaft, aber heilbar, sagte der Arzt und das dachte K. auch. Nach drei Wochen humpelte er wieder in die Firma, bei der er angestellt war.

Helmut K. ist gelernter Zentralheizungs- und Lüftungsbauer. "Ich habe einen der begehrtesten Berufe überhaupt", sagt er. Er mag seinen Beruf. K. ist 58 Jahre alt. Gerne würde er immer noch arbeiten, aber er sitzt jetzt im Rollstuhl.

Der Fuß wollte nicht heilen. Er wurde dick, tat weh beim Auftreten, passte nicht mehr so recht in den Schuh. K. erzählt, wie er sich geärgert habe, als das Wort "arbeitsscheu" fiel, als er sich krankmeldete. Das empört ihn bis heute, denn der Fuß wollte einfach nicht gut werden. Eine Operation im April 2020 sollte die Lösung bringen. Man hat ihm das Sprunggelenk versteift. "Damit ging es eigentlich erst richtig los", sagt K., "das ist bitter."

SZ-Adventskalender: Eine Schublade voller Medikamente, gegen Entzündungen, gegen Schmerzen, gegen Diabetes und und und.

Eine Schublade voller Medikamente, gegen Entzündungen, gegen Schmerzen, gegen Diabetes und und und.

(Foto: Catherina Hess)

Bitter ist ein Wort, das er sehr oft benützt. Man kann es ihm nicht verdenken. Hinter ihm liegen ein Dutzend Operationen und viele Schmerzen. Er hat sich wund gelegen, Haut musste transplantiert werden. Sein Fuß wurde im Mai 2021 amputiert.

Früher hat K. Squash und Badminton gespielt, ist gern auf die Dult in der Au gegangen und hat sich gefreut, in Giesing zu wohnen, wo er aufgewachsen ist. Jetzt ist er zum Stillsitzen verdammt. Alles hat sich in seinem Leben geändert. Einfache Dinge wie Schuhe anziehen werden zu einem "Abenteuer", sagt K. Neulich, erzählt er, sei er dabei vornüber aus dem Rollstuhl gefallen und lag dann auf dem Boden wie ein Käfer. Das Handy, mit dem er Hilfe hätte rufen können, war auf der anderen Seite des Zimmers. Seine Lebensgefährtin hat ihn so gefunden. "Sie hat mir schon mehrmals das Leben gerettet", sagt er. Auch vor mehr als einem Jahr, als er mit ihr in einen Kurzurlaub fuhr. Er weiß noch, wie er in München ins Auto stieg, mehr aber nicht. Sechs Wochen später erwachte er im Krankenhaus aus dem Koma, ohne seinen Fuß, mit versteiften Wirbeln, seitdem ist er querschnittsgelähmt. Eine Blutvergiftung hatte zu Nierenversagen, einer Gehirnhautentzündung und einer Entzündung im Lendenbereich geführt. Den Verlust des Fußes könne er verkraften, aber kein Gefühl mehr in den Beinen zu haben und deshalb im Rollstuhl zu sitzen, alles wegen eines Bänderrisses? "Das ist so bitter."

SZ-Adventskalender: Im Mai 2021 wurde K.s Fuß amputiert, er hat nun eine Prothese.

Im Mai 2021 wurde K.s Fuß amputiert, er hat nun eine Prothese.

(Foto: Catherina Hess)

Seine Wohnung in Giesing hat K. immer noch, aber er kommt mit dem Rollstuhl nicht durch die Türen und schon gar nicht ohne Aufzug in den zweiten Stock. Seitdem er aus der Reha entlassen worden ist, wohnt er in einer temporären Pflegewohnung zwischen Westpark und Laim. Hier steht ein Pflegebett, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, eine Kommode. In den Hängeschränken der Küche kann K. vom Rollstuhl aus nur ins erste Fach greifen. Dennoch ist dieses Apartment eigentlich ein Glücksfall, denn es gibt nicht viele solcher temporären Wohnmöglichkeiten in München, die rollstuhlgängig sind. Seit einem halben Jahr zahlt K. doppelt Miete. Seine Ersparnisse sind aufgezehrt. Aus einem sorglosen Handwerker wurde ein mittelloser Renter.

SZ-Adventskalender: Vorübergend ist K. in einem Pflegeapartment untergekommen. Allerdings zahlt er auch für seine alte Wohnung noch Miete.

Vorübergend ist K. in einem Pflegeapartment untergekommen. Allerdings zahlt er auch für seine alte Wohnung noch Miete.

(Foto: Catherina Hess)

Wenn alles gut geht, kann K. in ein paar Wochen im selben Haus in eine eigene Wohnung umziehen. Erst wenn er den Mietvertrag unterschrieben hat, soll er seine alte Bleibe kündigen. Zu groß sei die Gefahr, obdachlos zu werden, hat man ihm auf dem Sozialamt gesagt. Abhängig zu sein von einem Amt und von anderen Menschen, das widerstrebt K. zutiefst. Er hofft darauf, dass seine erwachsenen Söhne ihm beim Umzug helfen. Nur einer von ihnen wohnt in München. Aber sie haben es ihm versprochen. "Und ich kann ihnen dabei zuschauen", sagt K. Er blickt auf seine Hände. "Nicht mal eine Glühbirne kann ich wechseln."

Grundsätzlich bestehe die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendwann wieder laufen könne, sagen die Ärzte. Aber jetzt musste er einmal mehr unters Messer. Am Stumpf, wo der Fuß abgetrennt wurde, wollte eine Entzündung nicht heilen. K. ist Diabetiker. So richtig wahrhaben will er das anscheinend nicht. Er nimmt Tabletten und glaubt, dass er gut eingestellt sei.

Für die neue Wohnung muss er Ablöse zahlen für einen Schrank und einen automatischen Türöffner. Er braucht eine Küche, in der er selbständig kochen kann. Kaum etwas aus seiner alten Wohnung passt in die neue, die kleiner ist, nicht der Tisch und nicht das Sofa. Gerne würde K. mit seiner Freundin zusammenwohnen. Er fragt sich, wie das gehen könnte. Denn er sei ja angewiesen auf eine behindertengerechte Wohnung. Die müsste sie im Fall seines Todes dann wieder räumen, denkt er, denn er glaubt: "Ich sterbe bestimmt früher." Der Optimismus ist nach all dem, was ihm passiert ist, nicht mehr sein Freund.

Yamas Leben dreht sich um die kranke Mutter

SZ-Adventskalender: Yama kümmert sich um ihre Mutter, die kurz nach der Flucht der Familie aus Afghanistan krank wurde.

Yama kümmert sich um ihre Mutter, die kurz nach der Flucht der Familie aus Afghanistan krank wurde.

(Foto: Catherina Hess)

Sehr optimistisch ist auch Yama im Moment nicht. Aber sie ist jung und gesund. Sie hat einen Großteil ihres Lebens noch vor sich. Eigentlich heißt Yama anders, doch sie bittet, anonym bleiben zu dürfen. Der Name Yama ist beliebt in Afghanistan, wo die 23-Jährige geboren wurde. Er hat seinen Ursprung im Sanskrit und steht für Enthaltung und Selbstkontrolle. Beides passt in das bisherige Leben der jungen Frau. Denn ihre Mutter ist krank und ihr Vater ist tot. Er war Dolmetscher, erzählt Yama. Auch die Mama habe in der Heimat einen guten Job gehabt. Der Familie ging es finanziell nicht schlecht. "Aber es wurde gefährlich für uns", sagt Yama. Die Eltern begannen, die Flucht zu planen, als sie etwa neun Jahre alt war. Warum genau, das weiß sie nicht. Der Vater starb 2010, noch bevor sie Kabul verlassen konnten, die Mutter erzählt nicht mehr viel, ihre Erinnerungen schwinden.

Sie schaffte es zusammen mit Yama und dem etwas älteren Bruder 2013 nach Deutschland. Nur eine Woche nach der Ankunft hatte die Mutter einen Schwächeanfall. Sie wurde am Herzen operiert, bekam mehrere Bypässe. Erholt hat sie sich nie mehr davon. Von Jahr zu Jahr verschlechtert sich ihr Zustand, erzählt Yama. "Sie hat Bluthochdruck, Diabetes und jetzt auch noch Demenz diagnostiziert bekommen."

Die drei konnten zusammenbleiben, weil sich die Kinder um den Alltag kümmerten. Sie haben Deutsch gelernt und ihre Schulen abgeschlossen. Der Bruder ist Einzelhandelskaufmann, Yama hat Zahnarzthelferin gelernt. In den vergangenen drei Jahren war sie auf der Berufsoberschule für Gesundheitswesen, in dieser Zeit hat sie Bafög bekommen. Sie wollte ihr Abitur machen. Doch nun hat sie aufgegeben. "Wir brauchen Geld", sagt Yama. "Wir müssen Schulden an die Familienkasse zurückzahlen." Sie habe so aufgepasst mit all den Anträgen und Formularen, erzählt Yama, aber sie habe da wohl nicht alles richtig verstanden. Der Druck sei ihr im Moment zu groß. Sie habe viel gelernt in der Oberschule, aber richtig wohl gefühlt habe sie sich dort nie. Manchmal konnte sie nicht zum Unterricht kommen, weil sie ihre Mutter zum Arzt begleiten musste. Einige Prüfungen musste sie deshalb nachschreiben.

SZ-Adventskalender: Für die Mama da sein: Das ist Yama wichtig. Auch wenn darüber viele Kontakte mit Gleichaltrigen einschlafen.

Für die Mama da sein: Das ist Yama wichtig. Auch wenn darüber viele Kontakte mit Gleichaltrigen einschlafen.

(Foto: Catherina Hess)

Sich mit Freundinnen treffen, ins Kino gehen, darauf hat sie verzichtet, um bei ihrer Mutter zu sein. Die Kontakte aus der Mittelschule sind jetzt fast alle eingeschlafen, weil sie immer mit ihrer Familie beschäftigt ist. Besonders gerne erinnert sie sich an die achte und neunte Klasse zurück. "Das war eine gute Zeit", sagt Yama. Einen großen Anteil daran hatte ihre damalige Lehrerin, die sie beflügelte, den Quali zu machen. Ihre Abschlussnote beginnt mit einer Eins, Yama ist stolz darauf. "Einfach war das nicht für mich", sagt sie. Damals habe sie noch nicht so gut Deutsch gesprochen.

Jetzt sucht sie eine Teilzeitstelle in einer größeren Zahnarztpraxis. So könne sie ihre Zeit einteilen, arbeiten und für die Mama da sein, wenn die sie brauche. "Und was macht der Bruder", fragt man sie, hilft er mit im Haushalt? Er kocht, putzt, geht einkaufen, sagt Yama. Aber er kommt abends erst nach Ladenschluss nach Hause.

Yama möchte gerne lernen, sich weiterbilden und am liebsten ihren Verwaltungswirt machen. Auf eigenen Beinen stehen, das wäre schön. Jung und unbeschwert sein, das konnte sie noch nie. Die Verantwortung für die Mutter ist groß, die Liebe zu ihr aber auch. Yama träumt von einem eigenen Laptop und einem Drucker. Sie wird dafür jeden Euro zurücklegen, sobald sie eine Arbeit gefunden hat. "Sonst kann man keine Seminararbeiten schreiben", sagt sie. Sie denkt darüber nach, den Abschluss extern zu machen.

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