München:Sanftmut und Geduld

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Der Verein "Wohlbedacht" ist für viele Angehörige von Demenz-Patienten ein Rettungsanker. Angeboten werden Wohngemeinschaften, Nachtbetreuung und ein Krisendienst, der den Lebenspartnern der Betroffenen jederzeit mit Rat und Tat zur Seite steht

Von Ellen Draxel

Gerhard Sturm ist für Monika Keil ihr "Rettungsanker". Derjenige, der sie aus dem "tiefen Loch" gezogen hat, als sie vor einigen Jahren erfuhr, dass ihr Mann an Demenz erkrankt ist. Den sie 24 Stunden sieben Tage in der Woche anrufen konnte, als sie "dem Ertrinken nahe" war. Und den sie auch heute noch immer dann kontaktiert, wenn sie wieder mal nicht weiter weiß. Wenn sie verzweifelt ist und mit den Tränen kämpft, weil sie keine Lösung parat hat für das Verhalten ihres Gatten. "Wenn Herr Sturm mir zuhört, ist das ganze Leiden schon nicht mehr so schlimm", sagt die 74-jährige Münchnerin, "er versucht, mich mit sachlichen Argumenten auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen."

Monika Keils Mann ist an Frontotemporaler Demenz (FTD) erkrankt. Eine seltene Form der Demenz, bei der der Abbau von Nervenzellen zunächst im Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns stattfindet; dort werden Emotionen und Sozialverhalten kontrolliert. "Mir ist aufgefallen, dass er Worte verwechselte und oft sehr langsam reagierte, aber ich habe das erst mal nicht mit einer Erkrankung in Verbindung gebracht", beschreibt es Monika Keil. Zumal ihr Mann mit 71 noch vergleichsweise jung war, als die Krankheit Ende 2013 diagnostiziert wurde. Dass FTD meist schon zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr oder noch früher auftritt, wusste Monika Keil damals noch nicht.

Die Diagnose ließ sie verzweifeln: "Ich wollte mich fast umbringen, konnte nichts essen, war ein halbes Jahr in psychologischer Betreuung." Dann erfuhr sie von der Demenzhilfe des Allacher Vereins "Wohlbedacht" - und vom Krisentelefon des Vereins. Am anderen Ende der Leitung war Gerhard Sturm, seitdem sind die beiden in ständigem Kontakt. Sturm hat langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Demenzkranken, er hat den Verein im Jahr 2000 mitgegründet. "Wohlbedacht" bietet Demenz-WGs und einen Krisendienst an, Nachtbetreuung und Fortbildungen für Angehörige. Und eben auch ambulante Begleiter wie Gerhard Sturm. Angebote, die nur möglich sind, weil "Wohlbedacht" unter anderem mit dem Verein "Münchner für Münchner" einen starken Partner im Rücken hat.

Zweimal in der Woche besucht Monika Keils Mann die mit "Wohlbedacht" kooperierende Tagesbetreuung Rosengarten, die andere Zeit verbringt er zu Hause. "Er ist ein sehr unruhiger Geist, ich sitze ständig wie auf einem Pulverfass, weil er permanent wegläuft", erzählt die 74-Jährige. Der Bewegungsdrang, erklärt Vorstandsmitglied Annette Arand, sei für diese Art der Erkrankung typisch: "Diese Menschen können ohne Probleme bis zu 20 Kilometer am Stück laufen." Monika Keil hatte anfangs "wahnsinnige Angst, dass ihm unterwegs etwas passieren könnte". Sie versteckte die Schlüssel, versuchte, ihn am Gehen zu hindern. Das war das erste Mal, dass ihr Mann grob zu ihr wurde. Gerhard Sturm vermittelte: "Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie jemand einsperrt?"

Monika Keil (rechts) sind Gespräche mit "Sanftmutig"-Begleiter Gerhard Sturm unentbehrlich. (Foto: Florian Peljak)

Mittlerweile sorgt sich Monika Keil weniger darum, dass ihr Mann verloren geht - dafür ist sein Orientierungssinn noch zu gut. "Was mich umtreibt, ist die Sorge, dass er andere Leute belästigen könnte." Passanten um Geld fürs Einkaufen anbetteln beispielsweise, obwohl er selbst Bares dabei hat. So etwas ist Monika Keil peinlich, "da schäme ich mich". Gerhard Sturm rät ihr dann: "Ihre Haut, Frau Keil, muss dicker werden".

Sie sei ein Kontrollfreak, sagt die Münchnerin von sich selbst. Lernen zu müssen, loszulassen, ihrem Mann seine Freiheiten auf Kosten einer dann vielleicht nicht mehr hundertprozentigen Sicherheit zuzugestehen, fällt ihr extrem schwer. Auch erleben zu müssen, dass andere ihren Mann ablehnen, wenn er aus der gesellschaftlich normierten Rolle fällt, schmerzt sie sehr. Sie will alles gut machen, doch Demenzkranke haben ihren eigenen Kopf. "Wovor ich Angst habe, ist, dass er irgendwann mal aggressiv wird", sagt sie. "Aggression", beruhigt sie Gerhard Sturm, "ist nur eine Erklärung für einen falschen Umgang mit ihm."

Die Philosophie des Vereins ist, Demenzkranken trotz ihrer Krankheit ihren Willen zu lassen, sich an den Bedürfnissen und Handlungsimpulsen der Patienten zu orientieren. Menschen mit einer demenziellen Erkrankung werden zu nichts gezwungen, nicht zurechtgewiesen. Es gibt auch keine streng getaktete Pflege, die Betreuer reagieren kreativ und flexibel auf die Wünsche der ihnen Anvertrauten. "Sanftmutig" nennt sich dieses Konzept, das auf 20 Jahre Erfahrung beruht und inzwischen in ganz Deutschland nachgefragt wird. Begleiter wie Gerhard Sturm sind Gesprächspartner für Angehörige, sie geben Tipps für richtiges Verhalten, kommen aber auch nach Hause, wenn physische Hilfe nötig ist.

Was beispielsweise ist zu tun, wenn der Demenzkranke barfuß in den Schnee hinausstapft? Nicht aufregen, propagiert das Konzept: Wer die Kälte spürt, wird in der Regel von selbst wieder umdrehen. Oder das Thema Körperpflege: Sie hätten Menschen, erzählt Sozialpädagogin Arand, die ihre Kleidung zwei Wochen lang nicht wechseln wollten. "Die gehen dann so ins Bett - ohne, dass wir auf Konfrontation gehen." Irgendwann kämen sie von alleine und tauschen Pulli und Hose.

Für Monika Keil ist diese wertschätzende Art des Umgangs sehr tröstlich. Sie selbst tut sich schwer, zu verstehen, warum Dinge, die den Demenzkranken früher sehr wichtig waren, ihnen auf einmal gleichgültig sind: "Als Angehöriger muss man erst lernen, dass man plötzlich einen anderen Menschen an seiner Seite hat." Gerhard Sturm hat viel zu diesem Verständnis beigetragen. Der Verein "Münchner für Münchner" unterstützt diese respektvolle Art der Demenzpflege, indem er die Arbeit der Sanftmutig-Begleiter sponsert, denn: Öffentliche Mittel gibt es dafür nicht. Wie wichtig das Engagement des Vereins und der Begleiter für die Kranken und die Menschen, die ihnen nahestehen, ist, zeigt Monika Keils Handybild für den Rosengarten - ein Rettungsring.

Der monatliche Mitgliedsbeitrag für den Demenz-Krisendienst des Vereins "Wohlbedacht", den von Demenz betroffene Familien in Anspruch nehmen können, beträgt 15 Euro. Die Anmeldung zum Krisendienst erfolgt über die Tagesbetreuung Rosengarten unter der Nummer 8180209-10.

© SZ vom 09.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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