Süddeutsche Zeitung

Zweite S-Bahn-Stammstrecke:Söders Regierung verschwieg das drohende Desaster jahrelang

Interne Warnungen gab es mehr als genug - doch die Stadt München und die Landkreise erfuhren nichts von den alarmierenden Kostenschätzungen. Für einen Brief an den damaligen Bundesverkehrsminister Scheuer reichten die Erkenntnisse aber sehr wohl.

Von Klaus Ott

Vor einigen Wochen, als sich das Desaster bei der zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn nicht mehr verbergen ließ, nahm Bayerns Ministerpräsident ein großes Wort in den Mund: Transparenz. "Alle Fakten müssen auf den Tisch", verlangte Markus Söder bei einem Krisentreffen zu dem Milliardenprojekt, das immer teurer wird und viel später als geplant fertig sein soll. Zum Leidwesen vieler Menschen im Großraum München, die oft auf die S-Bahn warten oder im Stau stehen.

Inzwischen zeigt sich aber immer mehr: Söders eigene Regierung hat jahrelang genau jene Transparenz vermissen lassen, die der Ministerpräsident vom Staatsunternehmen Deutsche Bahn einfordert, dem Bauherrn der zweiten Stammstrecke. Antworten der Regierung auf Landtagsanfragen von FDP und Grünen sowie weitere Unterlagen dokumentieren, wie in Bayerns Verkehrsministerium nach und nach die Erkenntnis reifte, dass ein Debakel droht. Doch davon erfuhren die Stadt München und die umliegenden Landkreise, die dringend mehr und besseren öffentlichen Nahverkehr brauchen, offenbar rein gar nichts.

Höhepunkt des unrühmlichen Geschehens war zweifelsohne der 23. Dezember 2021. Einen Tag vor Weihnachten hatten sich Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) und acht Landräte gemeinsam beim Bahn-Vorstand über die ständigen Störungen bei der S-Bahn und deren nahezu fünf Jahrzehnte alte Stammstrecke durch die Innenstadt beklagt. Mitunterzeichnerin des Brandbriefes war Bayerns Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU).

Was die Kommunalpolitiker damals nicht wussten: Während sie sich händeringend für Verbesserungen bei der S-Bahn einsetzten und einen "Vertrauensverlust" der Fahrgäste beklagten, zeichnete sich längst das nächste, noch viel größere Problem ab. Sechs Wochen vorher, am 11. November 2021, hatte eine von Bayerns Verkehrsministerium eingeschaltete Expertengruppe ihre neuesten Berechnungen intern im Ministerium vorgelegt. Demnach könnte die zweite Stammstrecke erst 2037 statt wie zuletzt geplant 2028 fertig werden. Und 7,2 statt 3,8 Milliarden Euro kosten.

Interne Warnungen gab es mehr als genug

Darüber ließ Schreyer die Mitunterzeichner des S-Bahn-Brandbriefes an den Bahnvorstand aber offenbar im Unklaren. Erst Mitte 2022, als die Presse über drohende Verzögerungen beim Bau und absehbare Mehrkosten berichtete, machte der neue Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) diese Zahlen öffentlich. Anschließend beklagten sich die Landräte der acht Landkreise im Münchner Verkehrsverbund (MVV) bei Ministerpräsident Söder: "Wie wir am 30. Juni 2022 der Presse entnehmen mussten", befürchte Bayerns Verkehrsministerium, dass die zweite Stammstrecke sich "um 9 (!) Jahre verzögert". Angesichts des nahezu täglichen Verkehrskollapses im Großraum München sei das eine "schiere Katastrophe".

Schreyers Nachfolger Bernreiter versucht jetzt in einer Antwort auf eine Landtagsanfrage des Grünen-Fraktionschefs Ludwig Hartmann wortreich zu erklären, warum das Ministerium diese Zahlen verheimlichte. Bei den wiederholten Erkenntnissen der vom Ministerium beauftragten Expertengruppe habe es sich um "Grobschätzungen" gehandelt. Diese Schätzungen seien "zu keinem Zeitpunkt für die politische Entscheidung oder die öffentliche Diskussion" ein Ersatz für fehlende Daten der Deutschen Bahn gewesen.

Das erklärt aber nicht, wieso nicht wenigstens die Stadt München und die Landkreise im MVV über das sich abzeichnende Debakel informiert wurden. Hinzu kommt, dass Bayerns Verkehrsministerium schon seit Jahren gewarnt ist, wie Bernreiter auf Anfragen der Grünen und des FDP-Abgeordneten Sebastian Körber jetzt eingestehen muss. Seit Mai 2019 hat das Ministerium die fünfköpfige Expertengruppe zu Rate gezogen, die laut Vertragslage "bis zu 240 Stunden pro Arbeitswoche" für die Bewertung der zweiten Stammstrecke aufwenden kann.

Bereits am 8. Dezember 2019 verweist die Expertengruppe erstmals auf eine "mögliche Verzögerung" bei der Fertigstellung der zweiten Stammstrecke. Und am 28. April 2020 teilt die Fachgruppe dem Ministerium erstmals mit, dass das Projekt deutlich teurer werden könnte; mit 5,2 Milliarden statt 3,8 Milliarden Euro. Verkehrsministerin Schreyer informiert ihren CSU-Kollegen und damaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer am 7. Oktober 2020 "über eine mögliche Terminverschiebung sowie über mögliche Kostenerhöhungen". Und am 23. Dezember 2020 unterrichtet das Verkehrsministerium Söders Regierungszentrale, die Staatskanzlei. Die Kosten könnten auf 5,2 Milliarden Euro steigen, die Inbetriebnahme der zweiten Stammstrecke könne sich von 2028 auf 2034 verschieben. Interne Warnung gab es also mehr als genug.

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