Süddeutsche Zeitung

RSV-Infektionen:Die dramatische Lage in Münchens Kinderkliniken

Ein Säugling mit lebensbedrohlicher Entzündung am Schädelknochen, der erst mit 24 Stunden Verspätung operiert werden kann. Ein kleiner Patient, der nach Nürnberg verlegt werden muss. Wie überlastet die Kliniken sind.

Von Stephan Handel

"Das ist schon keine Welle mehr, das ist ein Tsunami", sagt Dominik Ewald. Er ist der bayerische Landesvorsitzende des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte - und er spricht über den massiven Anstieg von Infektionserkrankungen vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern, der derzeit Kinderarztpraxen und Kinderkliniken belastet und zum Teil über ihre Leistungsfähigkeit hinausbringt.

Alle Kinderkliniken in München melden Belegungen weit über die eigentlichen Kapazitäten hinaus - mit der Folge, dass Neupatienten entweder nach Hause geschickt werden oder in andere Städte verlegt werden müssen. So berichtet Jochen Peters, er ist Chefarzt der Kinderklinik im Krankenhaus Dritter Orden in Obermenzing, von einem Fall, wo ein kleiner Patient nach Nürnberg verlegt werden musste, und das war das nächste Bett in ganz Bayern.

Noch dramatischer: Ein Säugling mit einer lebensbedrohlichen Entzündung am Schädelknochen konnte erst mit 24 Stunden Verspätung operiert werden, weil trotz stundenlangem Herumtelefonieren in ganz Bayern kein Krankenhaus die Kapazität für eine solche OP hatte. Dazu kommt das Problem, dass der Rettungsdienst in der Nacht nicht mehr aus dem Stadtgebiet hinausfährt, so dass die Eltern der kleinen Patienten den Transport selbst übernehmen müssen - oder bis zum nächsten Tag nach Hause geschickt werden.

Die Patientenstatistik des Klinikums Dritter Orden spricht eine deutliche Sprache, auch wenn sie noch nicht ganz vollständig ist: Im ganzen Jahr 2022 wurden dort 78 Patienten wegen einer Infektion mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) behandelt - davon allerdings 39, also genau die Hälfte in den vergangenen zwei Wochen. "Tatsache ist", sagt Jochen Peters, "dass Säuglinge oft so betroffen sind, dass sie starke Atemnot entwickeln und Sauerstoff und Flüssigkeit brauchen - und das geht nun mal nur im Krankenhaus."

Die Erkrankten bleiben fünf bis sieben Tage im Krankenhaus

Auch das Klinikum Schwabing stößt an seine Grenzen - ein Sprecher teilt mit: "Wir sehen neben Infektionswellen durch RSV auch gehäuft Infektionen mit anderen Atemwegsviren (Rhinovirus, Parainfluenzavirus, andere Coronaviren und Influenza). Aktuell sind nahezu alle Betten belegt und die Krankenhäuser helfen sich daher gegenseitig mit Übernahmen aus." Dies sei ein bewährtes und funktionierendes System - doch nun werden die Kapazitäten knapp: "Dass verfügbare Betten temporär knapp werden, ist einerseits durch den Pflegemangel in Deutschland und andererseits durch Fehlanreize im Finanzierungssystem zu erklären." Die Behandlung von Kindern sei deutlich aufwendiger und zeitintensiver, werde dafür aber zu gering vergütet. Deshalb gebe es in "lukrativeren" Medizinbereichen ein größeres Bettenangebot als eben bei der Kindermedizin.

Der Kinderarzt Dominik Ewald bestätigt das auch für niedergelassene Mediziner: "Wir haben gut zu tun. Das liegt aber in erster Linie am Fachkräftemangel." Und Chefarzt Jochen Peters meint: "Das Problem ist nicht das Virus. Das Problem ist der Pflegenotstand." So seien in früheren Jahren oftmals mehr als 100 Kinder gleichzeitig stationär ohne Schwierigkeiten behandelt worden. "Heute können wir aber nur mehr 50 Prozent dieser Betten belegen, weil die Pflegekräfte fehlen." Die Erkrankten bleiben fünf bis sieben Tage im Krankenhaus. Während dieser Zeit kommen aber täglich neue Patienten an, bis zur Überlastung.

Durch die Schließung von Kitas und Maskenpflicht fiel die Immunisierung geringer aus

Eine Ursache für den enormen Anstieg der RSV-Infektionen sehen Experten auch in den Corona-Einschränkungen der vergangenen beiden Jahre: Normalerweise geraten Menschen in frühester Kindheit mit dem RS-Virus in Berührung und entwickeln so eine natürliche Immunität - mit ein Grund, warum Erwachsene selten an RSV erkranken, zumindest nicht schwer. Durch die Schließung von Kitas, Kindergärten und Schulen, durch Lockdowns und Maskenpflicht entfiel aber dieser Weg der Immunisierung, sodass die Fälle jetzt gehäuft auftreten, während in den vergangenen beiden Jahren die großen Wellen nahezu vollständig ausfielen. Es gibt keine kausale Therapie gegen die Erkrankung, behandelt werden nur die Symptome: Durch Sauerstoff- und Flüssigkeitsgabe, durch schleimhaut-abschwellende Medikamente. Eine Impfung existiert zwar, ist aber so teuer, dass sie nur für Risikopatienten empfohlen wird - normalerweise ist sie auch unnötig, eben weil die Natur selbst für die Immunisierung sorgt.

Weil das Virus sich hauptsächlich unter Kindern verbreitet, rechnen Experten in den nahenden Weihnachtsferien mit einer Beruhigung der Lage. Danach aber könnte es noch einmal losgehen. Dominik Ewald: "Mitte Januar, Anfang Februar werden wir eine nächste Welle sehen."

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