Medizinische Versorgung am Stadtrand:Kind krank - und kein Arzt weit und breit

Medizinische Versorgung am Stadtrand: Kinderärztinnen und -ärzte gibt es viele in München. Doch weil die Praxen ungleichmäßig in der Stadt verteilt sind, gelten manche Viertel als unterversorgt.

Kinderärztinnen und -ärzte gibt es viele in München. Doch weil die Praxen ungleichmäßig in der Stadt verteilt sind, gelten manche Viertel als unterversorgt.

(Foto: gpointstudio/imago/Westend61)

Obwohl in der Messestadt Riem 4600 Kinder und Jugendliche leben, gibt es dort bislang keinen Kinderarzt. Nun ist es Stadt und München Klinik gelungen, eine Praxis anzusiedeln - mit einem Modell, das auch anderen schlecht versorgten Vierteln helfen kann.

Von Nicole Graner

In der Messestadt Riem gibt es seit vielen Jahren keinen einzigen Kinderarzt. Immer wieder beklagen Eltern die katastrophale Situation, müssen mit ihren kranken Kindern zu Ärzten in andere Stadtteile fahren. Immer wieder behandelte auch der Stadtrat das Thema. Nun wird es endlich eine Kinderarztpraxis in der Messestadt Riem geben. Anfang April soll sie an der Werner-Eckert-Straße 10 öffnen.

Es war ein langes Ringen um die Praxis. Denn schon seit einigen Jahren sucht das Gesundheitsreferat nach Wegen zur Verbesserung der kinderärztlichen Versorgung in Riem. Dafür holte es schon vor längerer Zeit auch die München Klinik mit ins Boot. "Das Wohl der Kinder ist uns besonders wichtig", sagt der neue kaufmännische Geschäftsführer der fünf städtischen Häuser, Tim Guderjahn. Und so habe die Idee auch "zu unserem Versorgungsauftrag" gepasst. Mit am Tisch saßen auch die Initiative "Startstark" aus der Messestadt, die Stiftung Lichtblick und der noch in Gern praktizierende Kinderarzt Mathias Wendeborn.

Am Ende der vielen Gespräche stand ein Modell, das rechtlich "Verzicht zugunsten einer Anstellung" genannt wird. Das heißt: Kinderarzt Wendeborn bringt seinen Vertragssitz in die hundertprozentige Tochtergesellschaft Medicenter der München Klinik ein. Das Medicenter als ambulantes Versorgungszentrum, das Standorte in Bogenhausen und Harlaching hat, fungiert als Arbeitgeber. "Wir übernehmen die Praxis. Somit wird Mathias Wendeborn nicht mehr selbständig, sondern angestellter Arzt des Medicenter sein", sagt Guderjahn. Die Praxis in Riem werde eine pädiatrische Filiale des Medicenter. Ein komplexes Modell, wie er sagt, aber ein "gängiges".

Medizinische Versorgung am Stadtrand: Mathias Wendeborn soll im April die neue Stelle in der Messestadt Riem antreten. Bislang praktiziert der Kinderarzt in Gern.

Mathias Wendeborn soll im April die neue Stelle in der Messestadt Riem antreten. Bislang praktiziert der Kinderarzt in Gern.

(Foto: Eventpress Radke/imago images)

Finanziert und betrieben wird die Praxis von der München Klinik. Kosten für Arzt, Miete, zwei bis drei Medizinische Fachangestellte und Reinigungskräfte - als finanziell "unterstützende Partner" stehen laut Zweiter Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) die Stiftung Lichtblick und Startstark zur Seite. Ein sechsstelliger Betrag sei das, sagt Guderjahn, der in den ersten drei bis vier Jahren aufgefangen werden müsse. Aber dann hoffe er, dass sich die Praxis selbst tragen könne, schließlich sei die Patientennachfrage sehr groß. Trotzdem sei die Praxis kein "Selbstläufer" und müsse sich auch "erst etablieren".

Verena Dietl hat in der jüngsten Sitzung des Gesundheitsausschusses davon gesprochen, dass dieses Modell eine "Blaupause" für andere unterversorgte Viertel sein könne. Denn noch immer seien Haus- und Kinderarztpraxen nicht gleichmäßig über die Stadt verteilt. "Nach wie vor gilt die Planungsregion München im kinderärztlichen Bereich laut der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) als ausreichend versorgt", sagte Dietl. Das bestätigt die Vereinigung, der Versorgungsgrad liege bei 109 Prozent. Ein Prozentpunkt mehr und der Landesausschuss würde "sogar eine Überversorgung feststellen". Was bedeuten würde: keine weiteren Ärztezulassungen.

Ein Arzt soll rechnerisch 2043 Kinder und Jugendliche versorgen

Der Landesausschuss ist ein unabhängiges Gremium aus Ärzten, Krankenkassen und "unparteiischen Mitgliedern", das alle sechs Monate die Versorgungslage überprüft. Die Bedarfsplanung wird jedoch nicht nach Stadtbezirken vorgenommen, sondern laut KVB nach großräumigeren Planungsbereichen, die sich aus mehreren Kommunen oder Landkreisen zusammensetzen können. Dabei gebe es eine bundesweit festgelegte Zielzahl, auch für Planungsbereiche in einer Großstadt wie München. Statistisch solle hier ein Arzt 2043 Kinder und Jugendliche versorgen.

Immer wieder spricht Dietl davon, dass es in den unterversorgten Stadtgebieten nicht sein könne, "mit kranken Kindern kilometerweit zur nächsten Kinderarztpraxis fahren zu müssen". Das sieht die Kassenärztliche Vereinigung anders. Eine Unterversorgung liege bei einer Ungleichverteilung von Ärzten innerhalb eines Planungsbereichs nicht vor - solange die Menschen die vorhandenen Praxen erreichen können. Die Verkehrsinfrastruktur in München sei "hervorragend", daher könnten die "vorhandenen Versorgungsangebote in zumutbarer Erreichbarkeit in Anspruch genommen werden". Zumutbar heißt: eine Fahrtzeit von unter 30 Minuten.

Im Stadtbezirk Trudering-Riem leben 76 002 Menschen, davon 17 169 in der Messestadt. Darunter befinden sich 1238 Kinder bis fünf Jahre, 2142 zwischen sechs und 13 Jahren und 1221 von 14 bis 17 Jahren. Das sind 4601 Kinder, die medizinische Versorgung brauchen.

Gutachten fordert kleinräumigere Bedarfsplanung

Ein Gutachten des Instituts für Gesundheitsökonomik vom Oktober 2021, das die Stadtratsfraktion der Linken und die ihr nahestehende Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gaben, stellt fest, dass es "zwischen den Stadtbezirken deutliche Unterschiede im Gesundheitszustand der Bevölkerung" gibt und auch die Gesundheitsversorgung "ungleich verteilt" ist. Die höchste Ärztedichte gebe es in der Altstadt, die niedrigste in Milbertshofen-Am Hart.

Die Studie sieht eine "generelle Schwäche" in der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung, da sie München als einen "Planungsbezirk und damit als einen großen Zulassungsbezirk" werte. Auch verweist die Studie auf geplante Neubaugebiete wie zum Beispiel im Münchner Nordosten mit bis zu 30 000 Einwohnern. Da die Stadt fast als überversorgt gelte, sei es "unwahrscheinlich", dass für ein neues Siedlungsgebiet weitere Vertragsärzte zur Verfügung gestellt werden. Das Institut plädiert für eine "kleinräumige Bedarfsplanung innerhalb Münchens".

Die KVB begrüßt das Modell in der Messestadt, denn sie und der Landesausschuss hätten "keine Möglichkeiten, Ärzte in bestimmte Stadtteile oder Kommunen zu zwingen". Deshalb prüft das Gesundheitsreferat weitere Möglichkeiten, um die Versorgung mit Haus- und Kinderärzten zu verbessern. Das Ziel sei es, mit städtischen Förderprogrammen, Arztpraxen in schlechter versorgten Gebieten finanziell zu fördern, um die Attraktivität der Standorte zu steigern. Sollten sich weitere Kinderärzte bereit erklären, zugunsten einer Anstellung auf ihre Zulassung zu verzichten, sagt Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek (SPD), könnten weitere Praxen auch in anderen Stadtteilen entstehen.

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