Tourismus:"Ich verabscheue Billigflieger"

Tourismus: Er weiß, wo es hingeht: Gerhard Lind vor seinem Reisebüro in der Waldfriedhofstraße 87.

Er weiß, wo es hingeht: Gerhard Lind vor seinem Reisebüro in der Waldfriedhofstraße 87.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Erst wurde das Ende des Reisebüros prophezeit, dann sein großes Comeback. Und jetzt? Besuch bei Gerhard Lind, der seit Jahrzehnten Reisen verkauft - und sich eine Kerosinsteuer wünscht.

Von Pia Ratzesberger

Er kennt die Nummern noch alle, aber bald wird er sie nicht mehr brauchen. Er drückt schon heute nur noch selten den Hörer gegen sein Ohr, um von den Wünschen seiner Kunden zu erzählen. Der Reise nach Kreta, dem Marathon in New York.

500 600 01 zum Beispiel. Die Zentrale von Studiosus. Das hat man im Kopf nach all den Jahren, sagt Gerhard Lind und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkt die Arme hinter seinem Kopf. Die Ärmel seines Polohemds spannen sich. Wenn Lind aus seinem Büro im ersten Stock schaut, sieht er einen blauen Anhänger im Garten. Seinen Anhänger, mit dem er neulich erst die Akten aus dem Keller weggebracht hat. Lohnzettel, Reisekataloge. Abrechnungen. Zwei Tonnen Papier waren das.

Zwei Tonnen Papier, das sind drei Jahrzehnte, in denen Gerhard Lind Menschen auf Reisen geschickt hat.

Bei manchen Nummern, die er auswendig runter rattert, hebt heute niemand mehr ab. 2101 500 zum Beispiel. Die frühere Zentrale von Tui in München. Hat sich eingebrannt, sagt Lind und tippt mit dem Finger an seine Schläfe. Wenn er nicht schon erzählt hätte, dass er lieber angelt als Golf spielt, könnte man ihn sich mit der hellen Stoffhose gut auf dem Golfplatz vorstellen. Die Schläger aber bleiben meistens in der Ecke seines Büros.

Er hat sein Leben lang Reisen verkauft, den Traum von der Auszeit, auf die manche Monate sparen, manche Jahre. Eine Auszeit, die alles wettmachen soll, was man Zuhause ertragen muss. Er hat Reisen an junge Paare verkauft und an ältere Witwen, an Familien mit Kindern, an Familien ohne Kinder, an Alleinstehende, an Marathonläufer, an Radfahrer. An Einsame. Einmal verstarb ein Kunde im Hotelbett in Thailand. Lind sagt: "Im Laufe der Jahre muss man in meinem Job auf viele Beerdigungen gehen."

Wenn sich Gerhard Lind an seinem Schreibtisch aus dunklem Holz umdreht, sieht er ein Bild von einem Segelboot, ein Bild vom Meer. Vielleicht die Ostsee, sicher ist er sich nicht. Ein Erbstück der Tante. Wenn er sich nach links dreht, sieht er ein Bild von New York, die Brücke in Manhattan, ein altes Werbeplakat. Kein anderer Geruch hat sich ihm so eingebrannt, auch wenn er München liebt, überhaupt Oberbayern, die ganze Gegend. Danach kommt New York. Die heiße Luft aus den Schächten im Boden. Die Imbisse mit den Brezen. Er war schon Dutzende Male in der Stadt, in der sich Sehnsüchte über die Straßen legen wie feiner Staub. "Aber jetzt ist das mit den großen Reisen vorbei", sagt Lind. "Das sollen andere machen."

Das hat vielleicht damit zu tun, dass Gerhard Lind 73 Jahre alt ist. Vor allem aber damit, dass der Leiter des Reisebüros Galaxis im Süden von München, Haltestelle Holzapfelkreuth, daran zweifelt, ob die vielen Reisen, an denen er Jahrzehnte verdient hat und noch immer verdient, wirklich sinnvoll sind. "Das Reisen erweitert den Horizont, das schon." Er glaubt nicht, dass Reisen immer schaden. "Aber die unglaubliche Masse tut es." Ob er wieder ein Reisebüro übernehmen würde, wenn er noch einmal anfangen könnte? "Vielleicht wäre ich auch Ökoberater oder so."

Gerhard Lind drückt sich aus seinem Stuhl, läuft über den Teppich aus der Türkei, über den Teppich aus Teheran. Die Stufen in den Flur hinunter, durch die Kellertür. Vor ihm einfache Holzregale, nur in manchen liegen Kataloge. Die Stapel sind fast nie höher als ein dicker Aktenordner. Spanien und Portugal. Karibik und Mexiko. Im Raum nebenan die gleichen Regale mit ein paar Katalogen für den Winter. "Früher brauchte ich so einen Winterkeller für das viele Papier", sagt Lind. Früher schleppten die Kunden Dutzende Kataloge mit nach Hause, auch wenn sie keinen Urlaub planten, blätterten sie durch Bilder von Pools und Palmen. Früher kamen Kunden durch die Tür, die keine Ahnung hatten, wo sie hinfahren wollten. "Da hatte einer eine Vorstellung von Italien und ist dann doch nach Griechenland gefahren." Heute kommen die Menschen mit festen Bildern im Kopf. Aber sie kommen noch.

Tourismus: So sieht die analoge Welt des Reisebüros aus. Viele Kunden schätzen persönliche Beratung wieder, weil sie im Durcheinander des Internets zu viel Zeit verplempern.

So sieht die analoge Welt des Reisebüros aus. Viele Kunden schätzen persönliche Beratung wieder, weil sie im Durcheinander des Internets zu viel Zeit verplempern.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Ein Reisebüro wie das von Lind mit zwei bis drei Mitarbeitern macht in Deutschland im Schnitt etwa 1,6 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Das Reisebüro Galaxis in der Waldfriedhofstraße macht mehr als 2,5 Millionen Euro Umsatz.

In den Telefonbüchern stehen viele Nummern älterer Stammkunden, mit abbezahlten Häusern und geerbten Grundstücken, und auch deren Enkel buchen wieder im Reisebüro. Blättert man sich durch die Schlagzeilen der vergangenen Jahre, dann liest man: "Reisebüros dürfen wieder hoffen" - "Die Renaissance des Reisebüros" - oder "Reisebüros sterben nicht aus". Das trifft zumindest auf die zu, die übrig geblieben sind. Wenn Gerhard Lind früher vor seinem Geschäft stand, sah er auf der anderen Straßenseite ein zweites Reisebüro. Das hat mittlerweile geschlossen. Ein Drittel der Reisebüros in München hat in den vergangenen zehn Jahren zugemacht, acht Büros verkaufen ausschließlich im Internet.

Lind mag keine Rezeptionen, keine Frühstückbuffets

Lind lehnt sich zurück an seinem Schreibtisch, links das Bild aus New York. Er ist das erste Mal in einem Alter geflogen, in dem Teenager heute auf drei Kontinenten unterwegs waren. Von Hamburg nach Stockholm, das war eine Strecke, die er bezahlen konnte. Eine Strecke, die er nicht bezahlen konnte, war New York. Kurz vor Ende seiner Lehre zum Reisebürokaufmann, trampte er bis nach Göteborg und schlich sich im Hafen auf eines der Frachtschiffe. Auf den Bermudas griff ihn die Polizei auf, die deutsche Botschaft musste das Geld für die Rückfahrt vorstrecken. Lind weiß, wie viel Reisen kosten, wie viel Reisen auch kosten müssen. "Ich verabscheue die Billigflieger."

Er betreut schon lange nur noch ein paar Stammkunden, aber erinnert sich, wie viele plötzlich nicht mehr kamen, weil sie erst im Internet buchten - und sich irgendwann doch wieder ins Reisebüro setzten. "Mit dem Tablet auf den Knien." Die Menschen waren es leid, sich durch hunderte Angebote zu graben: "Nur noch ein Zimmer!" - "Leider schon weg!"- "Jetzt sofort buchen!" - "Bester Preis!!!" Lind sagt: "Wenn Sie von München nach Stockholm fliegen wollen, ist es natürlich am einfachsten im Internet zu buchen. Wenn Sie aber über Köln fliegen möchten, wird es schon kompliziert."

Wenn seine Kunden bei ihm aus der Tür gehen, haben sie im Schnitt 1500 Euro für eine Reise ausgegeben. Manchmal sind es auch 30 000 Euro. Eine Kundin fliegt jedes Jahr nach Norwegen, nach Bergen, von dort fährt sie mit dem Schiff weiter, die Küste entlang. In diesem Jahr fragte sie zum ersten Mal, ob sie die Reise nicht ohne Flugzeug machen könne. Das hätte 22 Stunden gedauert, hätte deutlich mehr gekostet. Sie flog dann doch. Lind wünscht sich seit Jahren eine Kerosinsteuer.

In seinem kleinen Reisebüro in der Waldfriedhofstraße erfährt man, wie sich in den vergangenen Monaten, zumindest für einen kleinen Teil der Gesellschaft, der Blick aufs Reisen verändert hat - aber auch, wie Menschen daran scheitern, die Ansprüche an sich selbst zu erfüllen. Vielleicht würde ein Ökoberater helfen. Der dunkle Schreibtisch, an dem Lind im ersten Stock sitzt, würde jedenfalls gut in eine Unternehmensberatung mit hohen Decken passen, nicht aber in die enge Wohnung in Sendling, der man ansieht, wann sie bezogen wurde. Anfang der 1980er Jahre hat sich Lind in das Büro eingekauft, eine gute Zeit fürs Reisen. Die Menschen hatten mehr Geld und mehr Urlaubstage. Ihre Radien wurden größer, wie Kreise im Wasser, wenn man einen Stein hineinwirft.

Galt nach dem Krieg als wagemutig, wer den Brenner überquerte, verkaufte Gerhard Lind in den 1980ern Tickets auf die Canaren. Lanzarote, Teneriffa, Gran Canaria, Fuerteventura. Die Veranstalter luden ihn zu langen Touren ein, um ihr Programm anzupreisen, Lind flog im Jumbo nach Australien, rauchte Pfeife an Board. Auf der Höhe des Irans war das Bier in der Maschine aus, aber selbst das konnte die Stimmung nicht trüben. Die Fluggesellschaften zeichneten immer neue Linien in die Karten ein. "Das war die Hochzeit", sagt Lind.

Damals hatte er draußen im Garten, wo heute der Anhänger steht, einen Wohnwagen geparkt, weil im Haus kein Platz mehr war für seine 16 Leute. Heute gibt es im ersten Stock einen Besprechungsraum. Im zweiten Stock einen Ruheraum. Ein Mitarbeiter hat sich noch ein Trainingszimmer eingerichtet, mit Hanteln. Die drei Schreibtische im Erdgeschoss, hinter der Eingangstür, gehören dem Mitarbeiter, einer Auszubildenden, einer Geschäftsleiterin. Gerhard Lind will nächstes Jahr in den Ruhestand gehen. Seine Nachfolge hat er schon geregelt.

Er will nächstes Jahr nach Polen fahren, an die Grenze zu Litauen. Nur er und die Seen, vielleicht ein Kanu, ziemlich sicher eine Angel. Er wird kein Hotel buchen. Er mag keine Rezeptionen, keine Frühstückbuffets, die vielen Augen, die einen beobachten, wenn man den Teller zurück zum Tisch bringt. "Ein Reisebüro würde an mir nichts verdienen", sagt Lind.

Er will auch im Ruhestand noch arbeiten, dann ehrenamtlich. Er liebt es, mit dem Auto durch die Stadt zu kurven, will ältere Menschen durch die Gegend fahren. Zum Arzt, zum Bäcker. Zum See.

Er wird nicht mehr an seinem Schreibtisch sitzen, im Reisebüro Galaxis, im ersten Stock. Haltestelle Holzapfelkreuth. Er wird nicht mehr die 500 600 01 wählen und erst nicht die 2101 500. Aber Gerhard Lind wird noch immer Menschen von einem Ort zum nächsten bringen. Nur die Strecken werden kürzere sein.

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