Die Eltern, die nach dem rechtsextremen Geheimtreffen in Potsdam Angst um die Zukunft ihrer Kinder in Deutschland haben. Die Kinder, die auf offener Straße attackiert werden. Der angebliche Nachbarschaftsstreit, hinter dem in Wirklichkeit jahrelange rassistische Diskriminierung steckt. Die Sorge, in der Stadt mit den meisten Todesopfern rechtsterroristischer Gewalt könnten sich Anschläge wiederholen wie der aufs Oktoberfest und jener am Olympia-Einkaufszentrum oder Morde wie die des NSU oder der „Gruppe Ludwig“.
Das Klima in Deutschland, auch in München, hat sich verändert. Wenn Siegfried Benker, der Vorsitzende des Opferberatungs- und -hilfevereins „Before“, von einem „gesellschaftlichen Rechtsruck“ spricht, dann gibt er wieder, was die Hilfesuchenden erleben, empfinden, befürchten. Ein „Seismograf“ sei der Verein, sagen Benker und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die Ausschläge dieses Seismografen werden immer größer. Aus den Spannungen im Untergrund ist längst ein anhaltendes gesellschaftliches Beben geworden. 383 Beratungsfälle gab es im vergangenen Jahr bei Before, teilweise waren ganze Familien betroffen. Insgesamt waren es 542 Hilfesuchende, darunter 119 Kinder und Jugendliche. Ein Höchststand, seit es die von der Stadt geförderte Einrichtung gibt.
Tatsächlich kamen sogar noch mehr Opfer von Diskriminierung, um sich bei Before Rat und Unterstützung zu holen. Doch in insgesamt 32 Fällen mussten Menschen abgewiesen werden: Im Frühjahr und im Sommer 2023 musste die Antidiskriminierungsberatung zwei „Fallannahmestopps“ für sechs beziehungsweise acht Wochen verhängen.
Für die Betroffenen, aber auch für Before und darüber hinaus für das gesamte Münchner Netzwerk gegen Diskriminierung, Rechtsextremismus, Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist dies der schlimmste Fall. Denn die Hilfesuchenden, die zeitweise nicht angenommen werden können, ziehen sich zurück. Nur die wenigsten kommen später wieder.
Damit fehlen ihre Erfahrungen auch bei der Betrachtung rassistischer und rechter Menschenfeindlichkeit in München. Dieses Bild zeigt nach den Erfahrungen von Antidiskriminierungsberaterin Stella Khalafyan ohnehin nur „die Spitze des Eisbergs“. Bei Before und anderen Einrichtungen des städtischen Netzwerks weiß man, wie hoch die Dunkelziffer ist.
Umso wichtiger ist, dass Before seine Arbeit ohne Unterbrechungen und Aufnahmestopps machen kann. „Betroffene von Diskriminierung und Opfer rechter Gewalt benötigen gerade in Zeiten gesellschaftlicher Verrohung zunehmend einen Ort, an dem sie solidarische Unterstützung bekommen“, sagt Benker. Dafür brauche der Verein die nötige Ausstattung, sprich: mehr Geld. Gespräche mit der Stadt liefen bereits, so Benker. „Wir haben ein Limit erreicht, bei dem wir den Anforderungen nicht mehr gerecht werden und die Unterstützung leisten können, die von den Betroffenen gebraucht wird.“
Seit den Coronajahren nimmt die Zahl der Fälle weiter zu
Seit acht Jahren berät Before Betroffene von Diskriminierung und rechter Gewalt. War der Anstieg der Beratungszahlen in den ersten Jahren möglicherweise auf die wachsende Bekanntheit der Einrichtung zurückzuführen, zeigt die Zunahme seit den Coronajahren deutlich die Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas, unter der vor allem verwundbare Gruppen leiden. Seit 2021 registriert Before eine Zunahme der jährlichen Beratungsfälle um mehr als 22 Prozent.
Dabei halten sich die Fälle der Antidiskriminierungsberatung (194) und der Hilfe für Betroffene rechter Gewalt (189) nahezu die Waage. In den meisten Fällen erlebten die Betroffenen Rassismus in seinen vielfältigen Ausprägungen. Besonders erschreckend: die Zunahme menschenfeindlicher Attacken im direkten Wohnumfeld. Von 49 derartigen Delikten spricht Before-Berater Matthias Schmidt-Sembdner – neben 69 Attacken im öffentlichen Raum.
Übergriffe in der Nachbarschaft sind für die Opfer besonders belastend, das erlebt Schmidt-Sembdner immer wieder. Weil sie sich wiederholen, oft über Jahre. Weil die Opfer nicht wegkönnen. Weil es – wie auch in vielen Diskriminierungsfällen – Hierarchien und Abhängigkeiten geben kann. Oft nehme die Intensität der Übergriffe zu und es dauere manchmal lange, viel zu lange, ehe solche Vorfälle nicht mehr als bloße „Nachbarschaftskonflikte“ betrachtet werden. Das könne mit rassistischen Schmierereien oder AfD-Aufklebern am Briefkasten beginnen und über verbale Drohungen zu tätlichen Angriffen eskalieren.
Die Täter wollen ein Zeichen setzen – über das betroffene Opfer hinaus
Doch nicht allein die diskriminierende oder gewalttätige Tat erleben die Opfer als traumatisierend. Häufig ist es nach den Erfahrungen der Before-Berater auch das Danach, wenn die rassistische Motivation hinter einem Übergriff von Polizei und anderen Behörden nicht erkannt wird. Wenn Ansprüche nach Diskriminierungserfahrungen nicht geltend gemacht werden können, weil Fristen zu kurz und rechtliche Regelungen zu dünn sind. Wenn für Opfer rechter Gewalt der Kampf für eine Entschädigung an Hürden scheitert, die die Betroffenen oft als Täter-Opfer-Umkehr erleben.
Für die Betroffenen stellt sich laut Siegfried Benker oft die Frage: „Kann ich mich auf diese Gesellschaft verlassen?“ Das sei fatal – denn rechte Taten sind nach Einschätzung der Before-Experten immer auch „Botschaftstaten“. Die Täter wollten ein Zeichen setzen, über das direkte Opfer hinaus. Der gesellschaftliche Rechtsruck führe dazu, dass sich Menschen zu Diskriminierungen und Übergriffen ermächtigt und ermutigt fühlten, sagt Benker: „Ausgrenzungsdebatten fordern immer auch reale Opfer.“