Isar-Amper-KlinikumGetötet von einem Mitpatienten

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Auf einer Pressekonferenz zeigen die Eltern von Kamilla Nagy Fotos ihrer Tochter.
Auf einer Pressekonferenz zeigen die Eltern von Kamilla Nagy Fotos ihrer Tochter. (Foto: Stephan Rumpf)

Vor rund drei Jahren starb Kamilla Nagy in einer geschlossenen Psychiatrie. Ihre Eltern machen dem Personal schwere Vorwürfe – und nehmen „die letzte mögliche Stufe“, um Gerechtigkeit zu erfahren.

Von Patrik Stäbler

Der Anruf, der die Welt von Stefan Nagy aus den Angeln hebt, erreicht ihn im Auto auf dem Weg nach Haar, wo er an jenem 31. Mai 2022 seine Tochter in der geschlossenen Psychiatrie des Isar-Amper-Klinikums besuchen will. Am Apparat ist ein Oberarzt des Krankenhauses, der ihm mitteilt, dass die 40-Jährige am Vormittag gestorben sei. Getötet von einem Mitpatienten. Auf grausame Art und Weise.

„Mir ist damals die Luft weggeblieben“, erinnert sich Stefan Nagy. „Es kam mir vor wie ein schlechter Traum.“ Verzweiflung steigt damals in ihm hoch, außerdem Trauer und Hilflosigkeit. Später jedoch kommt ein weiteres Gefühl hinzu: Wut. Nicht nur auf den psychisch kranken 33-Jährigen, der Kamilla Nagy mit einer Duschstange erschlagen hat. Sondern auf das Klinikum, die dortigen Ärzte und Pfleger. Denn sie haben aus Sicht von Stefan Nagy bei der Betreuung und Überwachung des Täters Fehler gemacht.

Deswegen sitzt der 68-Jährige an diesem Dienstagnachmittag vor Mikrofonen – neben ihm seine Frau, die schon vor Beginn der Pressekonferenz mit den Tränen kämpft. Das Ehepaar hat sich dazu entschieden, mit seiner Geschichte und seinen Vorwürfen an die Öffentlichkeit zu gehen – „auch wenn uns das schwerfällt“, sagt Stefan Nagy. Und doch wolle man „Gerechtigkeit“, betont Eleonora Nagy, die Mutter der Getöteten, mit erstickter Stimme. „Wir möchten gehört werden von der Justiz. Wir möchten, dass Kamilla Ruhe und Frieden bekommt. Und wir irgendwann auch.“

Zuvor hat Jella von Wiarda, die Anwältin der Nagys, auf die Geschehnisse an jenem Maitag vor fast drei Jahren auf der geschlossenen Station des Isar-Amper-Klinikums zurückgeblickt – und erklärt, wieso die Umstände aus ihrer Sicht „bis heute nicht geklärt“ sind. Im Zentrum steht dabei der 33-Jährige, den sie nur Herr L. nennt und der unter paranoider Schizophrenie leidet. Er war seinerzeit in die psychiatrische Klinik gekommen, nachdem er seinen Hund mit einer Nagelschere in die Achsel gestochen und ihn anschließend erdrosselt hatte – auf Anordnung Gottes, wie er sagte. Gegenüber der Polizei und den Ärzten habe L. mehrfach angekündigt, dass er auch einen Menschen töten müsse, sagt Jella von Wiarda. Zudem habe der 33-Jährige das Klinikpersonal angebrüllt und einem Arzt die für ihn bestimmten Medikamente aus der Hand geschlagen.

„Und dieser Mann durfte sich trotzdem auf einer geschlossenen psychiatrischen Station frei bewegen“, sagt die Anwältin. Sie wirft dem dortigen Personal „gravierende Fehler“ vor. So sei der 33-Jährige bis zur Tat nicht fachärztlich untersucht worden, obschon dies laut Bayerischem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz unmittelbar hätte erfolgen müssen. Am Morgen nach seiner Einlieferung riss L. eine Duschstange aus der Verankerung, ging ins Zimmer von Kamilla Nagy und schlug ihr damit mindestens zwei Dutzend Mal auf den Kopf. Danach riss er ihr den Pullover vom Leib und hängte sie damit auf, ehe er die Sachen der Frau neben der Leiche auftürmte und in Brand steckte.

„All das macht Lärm und kostet auch relativ viel Zeit“, sagt Anwältin von Wiarda. Und dennoch hätten Ärzte und Pfleger, die ihr zufolge beim Übergabegespräch im Stationszimmer waren, erst auf den Feueralarm reagiert. Seitens des Isar-Amper-Klinikums will man weder diese Vorwürfe noch den Vorfall selbst kommentieren. „Wir werden uns zu diesem laufenden Verfahren nicht äußern“, teilt ein Sprecher mit.

„Sie hat dort eine Heilung gesucht – und nicht ihr Ende“, klagt die Mutter von Kamilla Nagy

Im Sommer 2023 verurteilte das Landgericht München I den damals 33-jährigen Täter wegen Totschlags zur Unterbringung in einer geschlossenen Klinik auf unbestimmte Zeit. In dem Prozess traten die Nagys als Nebenkläger auf und erhoben schon damals schwere Vorwürfe gegenüber der Klinik. Auf ihre Initiative hin leitete die Staatsanwaltschaft München I ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt ein wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Es sei geprüft worden, „ob ein strafrechtlich relevantes Unterlassen der behandelnden Ärzte oder des Pflegepersonals im Zusammenhang mit dem Tod der Geschädigten feststellbar ist, das die Tat des Beschuldigten ermöglichte oder vereinfachte“, teilt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft mit. „Ein solches konnte nicht mit der im Strafverfahren erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden.“ Daher stellte die Behörde das Verfahren im Januar 2025 ein. Einer Beschwerde der Familie Nagy dagegen gab die Generalstaatsanwaltschaft München nicht statt.

Auf einer Pressekonferenz verleihen die Eltern von Kamilla Nagy ihrer Wut Ausdruck. Anwältin Jella von Wiarda (links) unterstützt sie.
Auf einer Pressekonferenz verleihen die Eltern von Kamilla Nagy ihrer Wut Ausdruck. Anwältin Jella von Wiarda (links) unterstützt sie. (Foto: Stephan Rumpf)

Laut Jella von Wiarda berief sich die Staatsanwaltschaft vor allem auf die Einschätzung eines Sachverständigen, wonach das Klinikpersonal weder Behandlungs- noch Überwachungsfehler begangen habe. Ganz anders bewertet das der emeritierte Professor Karl H. Beine, jahrzehntelang Chefarzt psychiatrischer Kliniken, der im Auftrag der Familie Nagy ein Gutachten erstellt hat. „Er kommt zu dem Ergebnis, dass hier eindeutige und gravierende Behandlungsfehler der Ärzte vorlagen“, sagt von Wiarda. Allein die Staatsanwaltschaft habe weder dieses Gutachten berücksichtigt noch eigene Ermittlungen angestellt. Demgegenüber teilt die Behörde mit: „Durch die Staatsanwaltschaft wurde zu dieser Frage insbesondere ein Sachverständigengutachten eingeholt. Zudem wurden Zeugen vernommen, die mit der Behandlung und Pflege des Beschuldigten betraut waren.“

Nachdem sie bislang auf juristischem Wege erfolglos geblieben ist, hat die Familie Nagy nun „die letzte mögliche Stufe“ genommen, sagt ihre Anwältin. So habe man Anfang der Woche einen Antrag auf Klageerzwingung beim Oberlandesgericht München eingereicht. Dieses – so die Hoffnung der Nagys – soll Ermittlungen gegen das Klinikpersonal anordnen. Zugleich geht die Familie an die Öffentlichkeit und fordert eine „juristische, rechtsstaatliche Aufarbeitung“, sagt Anwältin von Wiarda. Sie sei „enttäuscht und fassungslos“, sagt Eleonora Nagy, „wie man Kamillas Fall so unter den Teppich kehren kann“. Die Familie müsse angehört werden, auch wenn ihr niemand die Tochter zurückbringen könne. „Sie war krank, aber sie hatte eine Zukunft. Und sie hat dort eine Heilung gesucht – und nicht ihr Ende.“

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