Süddeutsche Zeitung

Prozess in München:1,5 Sekunden zwischen Leben und Tod

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Was, wenn der Angeklagte vier Sekunden vor der Kollision nicht das Gaspedal durchgedrückt hätte? Beim Prozess um den tödlichen Raserunfall an der Fürstenrieder Straße rekonstruiert ein Gutachter die letzten Momente.

Von Susi Wimmer

Das Raum-Zeit-Gefüge kann eine fragile Angelegenheit sein, und Diplom-Ingenieur Peter Stolle bewegt sich vor dem Landgericht München I mit seinen Rechenkünsten auf der Was-Wäre-Wenn-Achse hin und her: Was, wenn Victor B. vier Sekunden vor der Kollision nicht das Gaspedal durchgedrückt, sondern eine Vollbremsung eingeleitet hätte? Was, wenn eine Autofahrerin dem 124 Kilometer pro Stunde schnellen Geisterfahrer B. auf der Fürstenrieder Straße nicht ausgewichen wäre? Mit absoluter Sicherheit kann der Unfallanalytiker diese Fragen nicht beantworten. Aber ausgehend von dem Errechneten kann er Annahmen äußern, nämlich die, dass im ersten Fall der 14 Jahre alte Max noch leben würde. Und dass beim zweiten Beispiel bis zu sechs Menschen hätten sterben können.

Es ist Tag zehn im Prozess um den tödlichen Raserunfall an der Fürstenrieder Straße. Diplom-Ingenieur Stolle hatte für die Erstellung seines Gutachtens nicht nur die üblichen Hilfsmittel wie die Ergebnisse der Vermessung der Unfallstelle, die gründliche Untersuchung der Unfallautos sowie Drohnenaufnahmen zur Verfügung - zufällig war an jenem Abend des 15. November 2019 auch ein Autofahrer verbotenerweise mit einer Dash-Cam - einer Kamera - an seinem Armaturenbrett unterwegs und filmte das Geschehen. Zudem begegneten sich zeitversetzt an der Kreuzung zur Aindorferstraße zwei Linienbusse, in denen ebenfalls Kameras verbaut sind, die während sie filmen auch die Uhrzeit aufzeichnen und deren Bilder Teile der Straße zeigen. Und auf einer dieser Aufnahmen ist der 14 Jahre alte Max zu sehen, wie er mit drei Freunden gegen 23.21 Uhr aus dem Bus steigt.

Gutachter Stolle hat eine Zeitachse erstellt, in der Zehntelsekunden vor und nach dem Unfall aufgeführt sind. Und er hat aus seinen Erkenntnissen eine Simulation entwickelt, die den Unfall aus der Perspektive des Geisterrasers erkennen lassen. 4,2 Sekunden vor dem Zusammenstoß, sagt Stolle, habe Victor B. etwa bei Tempo 80 beschleunigt. Und zwar so, dass er das Gaspedal voll durchgedrückt haben muss, damit das Automatikgetriebe vom sechsten in den vierten Gang herunterschaltete. Etwa 150 Meter vor Victor B. kam ihm auf der linken der drei Fahrspuren der Bus entgegen, auf der rechten Spur fuhr ein bislang unbekannter Fahrer und ein anderes Auto wechselte von der mittleren auf die linke Spur. 1,5 Sekunden vor der Kollision konnte eine weitere Autofahrerin von der mittleren Spur, auf der ihr B. entgegenkam, noch schnell zur Seite steuern. 1,5 Sekunden vor der Kollision trat Max auf die Fahrbahn. 0,27 Sekunden davor gingen bei B.s BMW die Bremslichter an, eine Zehntelsekunde nach dem Aufprall erloschen sie. Hätte Victor B. nicht beschleunigt, sondern wäre mit etwa 75 Stundenkilometern gefahren, hätte er durch eine Vollbremsung den Unfall verhindern können.

"Ich war überzeugt, dass kein Unfall passiert", so ließ sich Victor B. im Prozess ein. Der 36-Jährige stand unter Bewährung, hatte an dem Tag Drogen konsumiert und flüchtete, weil ihn die Polizei kontrollieren wollte. Psychologe Jürgen Thomas bescheinigte B. eine "normintelligente Persönlichkeit", schloss schwerwiegende psychische Erkrankungen aus und stellte hedonistische, egozentrische und antisoziale Charakterzüge fest, aber "genügend Handlungskompetenz". Die Verteidigung hatte B.s Geisterfahrt mit Glücksspielern verglichen, die bei einer Glückssträhne zu mehr Risiko neigen würden. So habe B. geglaubt, da über eine längere Strecke nichts passiert sei, dass es auch weiterhin gut gehe. Diesen Vergleich wies Thomas vehement zurück. Zu derartigen Gedanken und Verhalten im Verkehr gebe es keine wissenschaftlichen Studien. "Und aus meiner Sicht aus gutem Grund."

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SZ vom 23.02.2021
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