Süddeutsche Zeitung

Prozess:"Was, wenn ich hätte schießen müssen?"

Lesezeit: 3 min

Im April 2018 zückte ein älterer Mann in der Polizeiinspektion Sendling eine Waffe und zielte auf eine Beamtin. Die Polizistin reagierte blitzschnell - und leidet seitdem an den Folgen. Nun steht der Angreifer vor Gericht.

Von Susi Wimmer

Es waren nur Bruchteile von Sekunden, die der jungen Polizeiobermeisterin blieben, um eine Entscheidung zu treffen: Vor ihr auf der Polizeiinspektion Sendling zielte ein Mann aus unmittelbarer Nähe mit einer Pistole auf sie. "Es war ein Reflex", sagt die Beamtin heute vor der zehnten Strafkammer am Landgericht München I. Mit all ihrer Kraft riss sie dem Mann die Pistole aus der Hand - und bewahrte damit alle Beteiligten vor einer Katastrophe. "Was, wenn ich hätte schießen müssen", fragt die heute 30-Jährige. Nun steht der Angreifer vor Gericht, ein 75 Jahre alter Rentner, der unter einer bipolar affektiven Störung litt. Befragt nach seinem Beruf, antwortete er damals: "Polizistenjäger."

Das Taschentuch liegt griffbereit vor ihm, und Helmut N. muss einige Male danach greifen, während er seine Lebensgeschichte erzählt. Von einer "schockierenden Kindheit", bis hin zu einer Trennung, bei der ihm seine Tochter entzogen worden sei. Heute sei er in dritter Ehe verheiratet, habe drei erwachsene Kinder und fühle sich "frei". Getreu seinem Motto "jeden Tag das Beste geben", habe er Kosmetika im Fernsehen verkauft, fünf Bücher geschrieben, wobei es keines zur Publikation geschafft habe, und als Selbständiger gearbeitet. "Das Geld", räumt er ein, sei immer "am unteren Limit gelegen". Sprich, er habe alles, was er verdient habe, in immer neue Ideen und Projekte gesteckt.

Helmut N. wirkt wie ein distinguierter älterer Herr, gebildet, mit ergrautem, längerem Haar, Brille, Sakko und Schal. "Über die Kamera haben wir ein älteres Pärchen gesehen, völlig unauffällig", sagt auch der Polizist im Zeugenstand, der in jener Nacht des 2. April 2018 als Dienstgruppenleiter in der Wache an der Treffauerstraße eingesetzt war. Er saß in einem leicht abgedunkelten Teil der Wache und sah, wie seine Kollegin Anne L. ( Name geändert) sich um die Herrschaften kümmerte. Man habe sich normal begrüßt, erzählt die Polizistin, dann habe der Herr gefragt, ob sie den alleine und gut geschützt sei. "Ich antwortete nicht." Dann habe Helmut N. von einer Auseinandersetzung mit einem Türken erzählt, dass dieser ihm immer die Garagenausfahrt mit seinem Auto zuparke.

Die Polizistin habe sich noch gedacht: Merkwürdig, dass der wegen so einer Banalität nachts um 4 Uhr zur Polizei geht. Und als nächstes zog der Mann eine Pistole aus der Manteltasche und richtete die Mündung aus einem Meter Entfernung über den Tresen hinweg auf ihren Oberkörper. Mit der linken Hand griff Anne L. zu, entriss die Waffe, ihr Kollege sprang auf, schrie. Und Helmut N. beleidigte die Polizistin als "Schande für die Polizei".

Der Schreck, sagt die 30-Jährige, sei erst später gekommen. Beim Telefonieren mit ihrer Familie, bei den Was-Wäre-Wenn-Gedanken in ihrem Kopf. Dass es sich bei der Waffe um eine Luftdruckpistole gehandelt hatte, war für die Polizisten auf der Wache auf die Schnelle nicht erkennbar, das bestätigt auch ein Waffen-Experte von der Spurensicherung. Eine Woche lang sei sie krank geschrieben gewesen, "Dienst in der Wache konnte ich längere Zeit nicht mehr machen", erzählt die Frau. Neben ihrem Stuhl steht ein Kinderwagen, ihr Baby brabbelt und gurgelt munter vor sich hin. Sie sei nun in Elternzeit, "aber ich denke sehr oft daran". Sie wolle auch wieder arbeiten, "aber ich werde das immer im Hinterkopf behalten". Auch ihre Kollegen in Sendling sind vorsichtiger geworden. Eine 29-jährige Polizistin etwa sagt, dass sie seit dem Vorfall "schon mehr schaut, wer da reinkommt und wo er die Hände hat".

Helmut N. erhebt sich, er will Anne L. die Hand schütteln und sich entschuldigen. "Nein", sagt Richter Nikolaus Lantz, "kein Körperkontakt". Über seinen Verteidiger Timo Westermann bietet der Rentner eine Wiedergutmachung in Höhe von 500 Euro an. "Für diesen Vorfall ist das definitiv zu wenig", sagt die Beamtin.

"Mein Mann hatte mit Hilfe seines Psychiaters die Tabletten langsam ausgeschlichen", erzählt die Ehefrau von Helmut N. Als er um Ostern herum plötzlich unruhig wurde und Schlafstörungen bekam, habe sie versucht, Tabletten zu besorgen, aber die seien vergriffen gewesen. Tatsächlich habe er am Tag vor der Tat Streit mit einem Nachbarn gehabt und sich plötzlich bedroht gefühlt. "Heute", sagt sie, sei er krankheitseinsichtiger. Das sah auch das Gericht so und setzte die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik zur Bewährung aus.

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SZ vom 05.11.2019
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