Prozess:Mutmaßliche Taten, die sehr lange zurück liegen

Prozess um Missbrauch einer Neunjährigen

Hat ein Mann den Freundinnen seiner Stieftochter K.-o.-Tropfen gegeben?

(Foto: dpa)
  • Zwei Frauen erheben Missbrauchsvorwürfe gegen den Stiefvater einer früheren Schulfreundin.
  • Er soll sie im Zustand der Widerstandsunfähigkeit missbraucht haben - vor neun Jahren.

Von Susi Wimmer

Nie habe sie ihren Mann gefragt, ob die Vorwürfe gegen ihn stimmen, sie sei sicher, dass das nicht der Fall sei, sagt die Ehefrau. Ihre Tochter spricht sogar von "unverschämten Lügen" über ihren Stiefvater. Und Verteidiger Alexander Betz erklärt, die Taten seien praktisch gar nicht durchführbar gewesen, "da hätten ja alle betäubt gewesen sein müssen", was eine familieninterne Verschwörung voraussetzen würde.

Es ist ein ungeheuerlicher Gedanke, den der Rechtsanwalt vor dem Landgericht München I provokant in den Raum stellt. Nämlich, dass die Familie hätte Bescheid wissen können, dass bei Übernachtungspartys die minderjährigen Feiernden betäubt und Alexander G. zwei von den Mädchen im Zustand der Widerstandsunfähigkeit missbraucht haben soll. Wie absurd dieser Gedanke ist, wo genau die Wahrheit liegt, und ob G. wegen Missbrauchs Widerstandsunfähiger verurteilt wird, darüber wird die Kammer unter dem Vorsitz von Richterin Sigrun Broßardt entscheiden. Wobei sich ein Urteil noch hinauszögern könnte: Am letzten Verhandlungstag musste der Angeklagte aufgrund von Herzproblemen in eine Klinik gebracht werden.

Die Suche nach der Wahrheit ist in diesem Fall ein schwieriges Unterfangen. Zum einen liegen die von der Staatsanwaltschaft angeklagten Taten etwa neun Jahre zurück. Zum anderen gibt es keine Zeugen für den mutmaßlichen Missbrauch. Der Angeklagte "verteidigt sich schweigend", wie es einer seiner drei Anwälte formulierte, und die Aussagen der Familie und der Partygäste von damals könnten nicht unterschiedlicher sein.

Die fünf Mädchen, die damals im Winter 2010/2011 bei ihrer Schulfreundin Tanja (Name geändert) in Höhenkirchen-Siegertsbrunn zum Feiern eingeladen waren und wenig oder gar keine Erfahrung mit Alkohol hatten, sind heute zwischen 24 und 26 Jahre alt. Nahezu alle berichten einhellig, dass alkoholische Getränke sowie Snacks von Tanjas Eltern zur Verfügung gestellt worden seien. "Die waren super-nett", erzählt eine heute 25-jährige Studentin vor Gericht. "Danach ist es aber ziemlich schwarz", sagt sie weiter. Sie habe "extreme Erinnerungslücken, keine normalen, sondern richtige Blackouts". Am nächsten Morgen sei es ihr extrem schlecht gegangen, sie habe sich übergeben. Und sie habe beim Aufwachen das merkwürdige Gefühl gehabt, dass sie geduscht habe mit einem bestimmten Duschgel. "Ich dachte, ich hätte das geträumt." Im Bad sei dann allerdings tatsächlich dieses Duschgel aus ihrem Traum gestanden. Bei der Polizei äußerte sie später den Verdacht, dass man "uns was ins Getränk gemischt hatte".

"Ich bin mir sicher, dass wir keinen Alkohol mitgebracht hatten, sondern dass das alles schon da stand", erzählt eine andere Zeugin, ebenfalls Studentin. Bei der Übernachtungsparty damals sei sie 13 oder 14 Jahre alt gewesen, "da durften wir selbst noch gar keinen Alkohol kaufen". Auch sie berichtet von einem plötzlichen "Filmriss" und dass es allen am nächsten Morgen "wirklich schlecht" gegangen sei. Auch die beiden jungen Frauen, die in ihren Videovernehmungen erzählen, dass der Stiefvater der Gastgeberin den Geschlechtsverkehr mit ihnen vollzogen hätte, sprechen von Blackouts. Dass sie während der Taten kurz wach geworden und dann wieder weggedämmert seien.

Diese Symptome könnten für das Anfangsstadium eines "soporösen Zustands sprechen", erklärt Rechtsmedizinerin Bettina Zinka in der Verhandlung. Eine Phase zwischen Schläfrigkeit und Koma, in der man beispielsweise nicht aufwacht, nur weil das Licht angeschaltet wird oder es laut knallt.

Die Professorin und Oberärztin berichtet aus ihrer 15-jährigen Erfahrung in der Rechtsmedizin und spricht über den Umstand, dass es außergewöhnlich sei, dass alle vier Mädchen von "vergleichbarer Symptomatik wie Übelkeit und Erbrechen" berichteten. Gerade diese Symptome seien "klassisch und typisch" bei einer Verabreichung von K.-o.-Tropfen. Allerdings könne sie auch nicht sicher ausschließen, dass der Zustand allein auf Alkohol zurückzuführen sei - oder darauf, dass zusätzlich noch psychoaktive Substanzen oder Drogen eingenommen worden seien.

"Ich habe keine Getränke gebracht, vor allem keinen Alkohol, und auch nichts zu essen", sagt die Mutter von Tanja G. im Zeugenstand. Im Gegenteil: Sie habe sich so aufgeregt über das Erbrochene im Badezimmer, dass sie ihrer Tochter Partyverbot erteilt habe. In solchen Nächten habe sie nämlich kaum geschlafen, weil die Aufregung bei ihr Atemnot verursache und sie deshalb ständig ihr Asthmaspray benutzen musste. Auch die Tochter sagt, ihre Eltern hätten kein Essen und keine Getränke gestellt, die Gäste hätten den Alkohol selbst mitgebracht. Eine Aussage, die die Vorsitzende Richterin Sigrun Broßardt schriftlich zu Protokoll geben lässt. Sitzungen der Landgerichte werden nicht wörtlich protokolliert, nur wenn eine Aussage als besonders relevant erachtet wird, kann dies veranlasst werden.

Die Verteidigung stellt etliche Anträge, die unter anderem darauf abzielen, dass eine Geschädigte psychische Probleme habe und angeblich unter einem Borderlinesyndrom leide. Eine Diagnose, die der psychiatrische Gutachter Karl-Heinz Crumbach in Frage stellt. Denn der Facharzt für Psychosomatik, der bei einem der mutmaßlichen Opfer diese und noch weitere Diagnosen gestellt hatte, habe diese nicht nach den erforderlichen Kriterien begründet. Außerdem würde keine einzige der genannten Störungen die Aussagetüchtigkeit der Zeugin in Frage stellen. Der Gutachter schätzte die Videoaussagen der mutmaßlich Geschädigten als "besonnen, konzentriert und nicht leichtfertig belastend" ein: "Es ist kein psychischer Ausnahmezustand erkennbar."

Rechtsanwältin Antje Brandes, die die beiden jungen Frauen in der Nebenklage vertritt, sagte der SZ, dass von Seiten ihrer Mandantinnen keinerlei Grund erkennbar sei, warum sie neun Jahre später Alexander G. belasten sollten. "Die Frauen haben schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander." Das Muster, dass viele Opfer das Geschehene verdrängen, und dass Jahre später alles wieder hochkommt, habe sie schon oft erlebt. Im aktuellen Fall hatte eine der Frauen plötzlich Panikattacken erlitten, sobald sie eine S-Bahn betrat. Sie hatte sich nach eigener Aussage urplötzlich an die Fahrt mit der Bahn zur Party erinnert - und an den Missbrauch.

Der Prozess dauert an, in dieser Woche waren die Plädoyers avisiert. Ob es dazu kommt, hängt vom Gesundheitszustand des Angeklagten ab. Dieser hat die Klinik inzwischen wieder verlassen.

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