„Unser schönes Pasing – eine richtige Räuberhöhle wird’s noch“, sagt die eine Frau zu der anderen, woraufhin diese zustimmend nickt. Allerdings: Die beiden wissen nicht, dass das, was sich gerade in der Gleichmannstraße abspielt, die Räuberhöhlenwerdung im Westen gerade verhindern soll, indem eine Straftat aufgeklärt wird.
Vor zwei Wochen hatte hier ein 40-Jähriger mit einem Messer auf Passanten, die für ihn wie Muslime aussahen, eingestochen. Zwei davon verletzte er, bevor er überwältigt und von der Polizei festgenommen wurde. Weil er sich in seinen Vernehmungen angeblich muslimfeindlich geäußert haben soll, hat der Generalstaatsanwalt die Ermittlungen übernommen. Und nun, am Dienstagmittag, versucht die Polizei, zu weiteren Erkenntnissen zu kommen, indem sie die Tat an Ort und Stelle nachstellt und rekonstruiert.
Christian Drexler von der Pressestelle des Polizeipräsidiums erklärt, dass eine solche Rekonstruktion bei schweren Verbrechen zum Standard polizeilicher Ermittlungsarbeit gehört: Alle Zeugen sind befragt, nun soll am Tatort überprüft werden, ob die Aussagen zusammenpassen – ob sich die Tat wirklich so abgespielt haben kann, wie die Beteiligten sie geschildert haben. Denn jeder Polizist, jeder Rechtsanwalt, jeder Staatsanwalt, jeder Richter weiß: Das unsicherste aller Beweismittel ist der Mensch.
Zunächst aber tut der Mensch in seiner Eigenschaft als Pasinger vor allem eines: Er stört. Die Gleichmannstraße ist von der Spiegelstraße bis zum Pasinger Marienplatz gesperrt, aber das sehen viele der Einkaufenden ja überhaupt nicht ein. Eine Frau mit einem Einkaufstrolley beschimpft den Polizisten, der sie nicht durchlässt: „Werden Sie erst mal 89 Jahre alt! Ich zeig’ Sie an!“ Als der sich davon aber nicht beeindrucken lässt, bequemt sie sich doch zu dem Umweg über die Bäckerstraße.
Zahlreiche Schaulustige stehen da, obwohl es im Moment noch gar nichts zum Zuschauen gibt. Die Polizeibeamten justieren noch ihre Kameras, Fotoapparate und Mikrofone, den Zeugen wird ihre Aufgabe erklärt. Bewegung kommt in die Szene, als ein auffälliger BMW – grün mit orangefarbenen Sitzen – durch die Absperrung fährt und direkt vor „Duri’s Friseure“ hält, genau dort geschah die Tat. Hat aber alles seine Ordnung: Das Auto gehört Cafar J., er ist einer der Verletzten, wie eine eindrucksvolle Naht am rechten Oberarm beweist. Bei dem Angriff stand das Auto auch an genau dieser Stelle, deshalb hat Cafar J. im Moment den exklusivsten und bestbewachten Parkplatz in der Stadt.
Viermal soll das Szenario durchgespielt werden, je einmal mit den beiden Geschädigten, zwei weitere Male mit Zeugen. Zunächst ist Ali K. dran, 25 Jahre alt, Auszubildender. Die Rolle des Messerstechers übernimmt ein Polizeibeamter, er steht an der Ecke und hält das Messer schon in der Hand. Zu tun hat er aber erst mal nichts: Ali K. erläutert ausführlich, woher er kam, wer vor und wer hinter ihm ging, wie groß der Abstand war. Was er erläutert, lässt sich nur an seinen Gesten ablesen: Dies ist ja immerhin eine Zeugenaussage und somit zunächst nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, deshalb achten die Polizisten auf noch mehr Abstand und werden dafür noch mehr beschimpft.
Als Cafar J. dann an der Reihe ist, kommt der polizeiliche Messermann endlich zum Einsatz. Er tritt an ihn heran, als dieser gerade in sein Auto einsteigen will, so war es auch am 23. Juni. Natürlich deutet er die Messerstiche nur an, aber für Cafar J. ist die Situation trotzdem nicht einfach: „Ich war kurz vor einer Panikattacke“, wird er später sagen. Ohnehin kann er sich, so sagt er, immer noch an jedes Detail der Tat erinnern.
Bis in den frühen Nachmittag hinein dauert die Rekonstruktion. Danach müssen Bilder, Filme, Töne aufeinander abgestimmt und ausgewertet werden. So können sie in einem späteren Gerichtsprozess als Beweismittel dienen. Die schimpfenden Pasinger werden darin eher nicht vorkommen.