Politik in München:Mit Tempo 30 in den Koalitionskrach

Lesezeit: 3 min

Heute schon gilt auf 85 Prozent aller Münchner Straßen Tempo 30, zum Beispiel um Kinder und Senioren zu schützen. (Foto: Sebastian Gabriel)

Die Grünen fordern ein grundsätzliches Geschwindigkeitslimit für ganz München, ohne die Idee vorher mit der SPD abzustimmen. Nun gibt es Ärger.

Von Anna Hoben und Andreas Schubert, München

Pünktlich zum Mittagessen war das Wort "Autohass" in der Welt. Um diese Zeit reagierte am Mittwoch die SPD/Volt-Fraktion auf den Vorschlag ihres Koalitionspartners, der Grünen, München zur "Modellkommune" für Tempo 30 zu machen. Am Morgen hatten die Grünen dazu eine Pressemitteilung verschickt. Ein paar Stunden später schäumte die SPD bei Twitter. "Der mit der SPD/Volt-Fraktion nicht abgestimmte Vorstoß ist eher von blindem Autohass als von einer konstruktiven Mitwirkung an einer zeitgemäßen Verkehrspolitik geprägt", so wurde Fraktionschef Christian Müller zitiert.

"Blinder Autohass", solche Begriffe kennt man normalerweise eher von CSU oder FDP. Aber nicht von der SPD, die sich mit ihrem Partner, den Grünen, der Verkehrswende verschrieben hat. Müllers Kollegin Anne Hübner twitterte: Wenn ihnen tatsächlich an einer Umsetzung liege, hätten die Grünen das Thema zuerst mit der SPD besprechen müssen. "Uns derart zu übergehen, ist arrogant, und auch der Sache nicht zuträglich." Und zack, da war er: der nächste Koalitionskrach im Rathaus.

SZ PlusMünchen
:Hier wird es persönlich

Politiker können sich zurzeit fast nur online präsentieren. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Ein Streifzug durchs Netz.

Von Heiner Effern und Anna Hoben

Der Grund für den Ärger: Die Grünen haben eine alte Idee des früheren Kreisverwaltungsreferenten Wilfried Blume-Beyerle aufgegriffen, der schon vor zehn Jahren vorschlug, flächendeckend Tempo 30 auf Münchens Straßen einzuführen. Ausnahmen sollte es nur auf wenigen ausgewählten Verkehrsadern geben, der Mittlere Ring als Bundesstraße wäre da allerdings nicht dabei. Die Grünen waren damals als einzige Partei für diese Idee. Weil Tempo 30 auch auf Hauptstraßen bislang rechtlich nicht möglich ist, soll sich München nun beim Bundesverkehrsministerium als Modellstadt bewerben.

Das Argument für diesen Schritt damals wie heute ist nicht nur die Verkehrssicherheit. In München gilt bereits in etwa 85 Prozent des Straßennetzes Tempo 30. Wird dies die Regelgeschwindigkeit, könnte die Stadt überall dort die Schilder und Markierungen zum Tempolimit abbauen. Das Kreisverwaltungsreferat hatte weiland ausgerechnet, dass man so den Schilderwald von 12 000 Verkehrszeichen auf 4000 reduzieren könnte. Und was zunächst mit Kosten für die Neuordnung und Umplanung verbunden wäre, würde sich über die gesunkene Anzahl der Schilder amortisieren, argumentieren die Grünen. Denn alle Schilder und Markierungen müssten regelmäßig gewartet respektive erneuert werden. Das Stadtbild und insbesondere Fußgänger würden profitieren, da die 12 000 Schilder vielerorts auf oder an den Gehwegen stünden. Die Verwaltung müsste zudem nicht mehr den Großteil der Straßen auf ihre formale Eignung für Tempo 30 prüfen, sondern nur noch wenige Verkehrsachsen auf Eignung für Tempo 50. Die Beweispflicht wäre also umgekehrt.

Die SPD ist nicht nur vergrätzt wegen des Alleingangs des Regierungspartners, sie lehnt auch die Idee ab. "Ein flächendeckendes Tempo 30 schadet der Stadt mehr als es ihr hilft", sagt Fraktionschef Christian Müller. Hauptverkehrsstraßen wickelten den Großteil des Verkehrs ab und müssten daher leistungsfähig sein. Sonst verlagere sich der Schleichverkehr in Wohnstraßen, und der Busverkehr werde ausgebremst. "Zielgerichtete Geschwindigkeitsreduzierungen aber halten wir für sehr sinnvoll - vor Kindertagesstätten etwa, vor Schulen, Krankenhäusern oder in Wohngebieten." Das werde auch heute schon umgesetzt.

Oberbürgermeister Reiter: "Äußerst unprofessionell"

Mit mehr Verkehr in Wohngebieten argumentiert auch die Oppositionsfraktion CSU, die den Vorstoß als "nicht zielführend" ablehnt, wie Fraktionschef Manuel Pretzl mitteilt. Im Übrigen freue er sich, dass die SPD "offensichtlich wieder zu einer in Teilen vernünftigen Verkehrspolitik zurückkommt und diesem blinden Autohass der Grünen nicht länger folgt".

Sogar Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) meldete sich zu Wort: Weil Tempo 30 schon so verbreitet sei, sehe er keinen Anlass für ein generelles Tempolimit. Und dann stellte er den Grünen ein vernichtendes Zeugnis aus: Das Verhalten des Koalitionspartners sei "äußerst unprofessionell und nicht geeignet, nachhaltige Regierungsfähigkeit zu demonstrieren". Eine Pressemitteilung herauszugeben, mit der die Grünen einen Antrag zu einem so grundsätzlichen Thema vorwegnehmen, ohne inhaltliche Diskussion mit dem Koalitionspartner, sei "jedenfalls nicht hilfreich", teilte Reiter mit.

Womit man wieder bei dem wäre, was in der Politikerblase auf Twitter die inhaltliche Diskussion überlagerte: dem Umgang unter politischen Partnern. Seit dem Start der grün-roten Koalition im vergangenen Frühjahr vermitteln die Parteien den Eindruck, dass sie noch nicht ganz zueinander gefunden haben. Die thematische Einigkeit wird immer wieder durch Konkurrenzdenken überdeckt. Wer hat eine Idee zuerst gehabt? Wer hat die Arbeit gestemmt für den gemeinsamen Antrag? Wer präsentiert das Projekt der Öffentlichkeit? Eine Fraktion punktet, die andere ist gekränkt. Das öffentliche Austragen solcher Konflikte mag abnehmen, gleichzeitig nimmt die Gereiztheit zu, der Ton wird schärfer. Einen so heftigen Ausbruch wie am Mittwoch hat es bisher noch nicht gegeben.

Grünen-Fraktionschef Florian Roth will von einer Koalitionskrise indes nichts wissen. Es sei "keine große Neuigkeit", dass Tempo 30 eine grüne Position ist. Der Vorschlag komme aus den Bezirksausschüssen und der Partei. Man habe überdies keinen Stadtratsantrag gestellt, dies geschehe selbstverständlich nur in Absprache mit dem Koalitionspartner. Gleichwohl hält es Roth für unproblematisch, dass die Grünen ihre Haltung per Pressemitteilung kundtun - auch in der SPD habe es schon häufiger Alleingänge gegeben.

Einen anderen Antrag stellten die beiden Regierungspartner am Mittwoch gemeinsam: Ponyreiten soll künftig auf Festen oder Jahrmärkten auf städtischen Flächen untersagt werden. Zum einen litten Pferde unter der Lärmbeschallung. Zum anderen vermittle das stupide Laufen im Kreis kein zeitgemäßes Bild von Tieren. Zumindest da war man sich einig.

© SZ vom 04.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Sicherheit im Verkehr
:"Wir müssen Wege finden, Geschwindigkeiten zu reduzieren"

Zu schnelles Fahren ist in Deutschland Hauptursache für tödliche Unfälle. Matthew Baldwin, in der EU-Kommission zuständig für Verkehrssicherheit, über Tempolimits, Pop-up-Radwege - und die übermäßige Abhängigkeit vom Auto.

Interview von Thomas Hummel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: