"München ist die sicherste Großstadt Europas - das ist die Botschaft, die wir jedes Jahr vom Polizeipräsidium bekommen": Das sagte Oberbürgermeister Dieter Reiter am Dienstag im Alten Rathaus. Die Botschaft, die erstaunlich viele Einwohner empfangen, ist freilich eine andere: Sie fühlen sich unsicher und unwohl, speziell, wenn sie bestimmten Bevölkerungsgruppen angehören; Minderheiten vor allem.
In einer Anhörung beschäftigten sich am Dienstag Stadtrat und Vertreterinnen und Vertreter verschiedener sozialer Organisationen mit diesen verunsicherten Gesellschaftsschichten und der Frage, wie deren Sicherheitsgefühl wieder gestärkt werden könne. Anlass war die von der Stadt in Auftrag gegebene Studie zur "Hasskriminalität in München", die im Alten Rathaus vorgestellt wurde. Wobei der Verfasser Werner Fröhlich vom Sozialwissenschaftlichen Institut München den Begriff lieber erweiterte auf "Vorurteilskriminalität": Oft sei gar nicht Hass der Grund für gewisse Straftaten, häufiger seien es Vorurteile wegen einer wahrgenommenen Andersartigkeit, erläuterte er.
Miriam Heigl von der städtischen Fachstelle für Demokratie wies darauf hin, dass sich die Studie nicht nur auf Gewalttaten beschränke, die in die Polizeistatistik einfließen. Sie beschäftige sich vielmehr gerade mit "niedrigschwelligen Aggressionen im Alltag wie Beleidigungen", die gar nicht erst angezeigt werden und folglich auch nicht in der Kriminalstatistik auftauchen. Dieses Dunkelfeld zu erhellen, sei Ziel der Untersuchung gewesen; deshalb wurden bei der Befragung auch Vorfälle registriert, die "unterhalb oder nahe an der Strafbarkeitsgrenze liegen", wie Werner Fröhlich es formulierte.
Zwischen Juni und August 2020 antworteten 1429 Menschen auf die schriftlichen Fragen; rund 40 Prozent davon waren Deutsche mit Migrationshintergrund oder Ausländer und Ausländerinnen. Von denjenigen, die angaben, im Jahr 2019 Opfer einer (Straf-)Tat geworden zu sein, führte mehr als jede vierte Person die Vorfälle auf Vorurteile zurück: wegen der Herkunft, des Geschlechts, der Hautfarbe, der ethnischen Zugehörigkeit, der sexuellen Orientierung, einer Behinderung.
Außer auf die unmittelbar Betroffenen, so ein zentrales Ergebnis der Studie, wirken sich die Taten auch auf Menschen aus dem gleichen Milieu, dem gleichen sozialen Umfeld, mit gleichen Merkmalen aus: Auch sie meiden dann bestimmte Orte, an denen es Anfeindungen und Angriffe gegeben hat; häufig sind das öffentliche Verkehrsmittel. Auch sie gehen abends und nachts nicht mehr aus dem Haus, ziehen sich generell zurück. Dieser "Botschaftscharakter der Taten" beeinflusse eine Stadtgesellschaft, warnt Miriam Heigl.
Ein weiteres auffälliges Ergebnis der Studie ist auch, wie selten nach solchen Vorfällen die Polizei zu Hilfe gerufen worden ist und wie wenig Strafanzeigen anschließend gestellt wurden - in jeweils weniger als zehn Prozent der Fälle. Bei einer vergleichbaren Studie in Niedersachsen hatte immerhin jede vierte betroffene Person angegeben, den oder die Täter angezeigt zu haben; das ist auch in München die Quote, wenn es nicht um Vorurteilskriminalität geht, sondern um gewöhnliche Delikte. Auf Nachfrage erklärten die Studien-Teilnehmer häufig, dass die Polizei den Fall sowieso nicht aufklären könne; viele wussten auch gar nicht, dass man das Delikt überhaupt hätte anzeigen können.
"Jeder kann uns mit einer angezeigten Straftat helfen", betont Polizeipräsident Hampel
"Weil viele Verfahren nach ein paar Wochen eingestellt werden, fragt man sich auch: Lohnt sich das überhaupt?", berichtete Hamado Dipama aus seiner Erfahrung im Migrationsbeirat der Stadt. Der ebenfalls zur Anhörung eingeladene Polizeipräsident Thomas Hampel warb sehr dafür: "Jeder kann uns mit einer angezeigten Straftat helfen", versicherte er, verwies aber darauf, dass die Einstellung von Verfahren Sache der Staatsanwaltschaft sei und nicht mehr der Polizei. Hampel bot indes der Stadt an, Maßnahmen und Kampagnen abzustimmen, um der Vorurteilskriminalität entgegenzuwirken.
Oberbürgermeister Reiter resümierte, "dass aus Gesprächen und Hearings jetzt auch eine To-do-Liste werden muss". Ihm schwebt vor, das Bewusstsein vor allem bei Jugendlichen dafür zu schärfen, was überhaupt angezeigt werden kann sowie die Anzeige oder Meldung von entsprechenden Taten zu erleichtern. "Aber auch die Zivilcourage zu stärken, ist ein Thema, das wir anpacken müssen", findet Reiter. Das kam in der Studie nämlich auch zur Sprache: Viele Betroffene hätten sich gewünscht, dass Leute, die in der Nähe waren, nicht einfach weggeschaut, sondern ihnen geholfen hätten.