Poetry Slam:"Das ist ziemlich weird, aber irgendwie geil"

Poetry Slam: Neben seiner Promotion gibt Henri Kruse Nachhilfe in Mathe, arbeitet als Gärtner, produziert Songs und schreibt Texte, die er inzwischen auf Poetry-Slam-Bühnen in ganz Süddeutschland vorträgt.

Neben seiner Promotion gibt Henri Kruse Nachhilfe in Mathe, arbeitet als Gärtner, produziert Songs und schreibt Texte, die er inzwischen auf Poetry-Slam-Bühnen in ganz Süddeutschland vorträgt.

(Foto: Florian Peljak)

Henri Kruse ist Mediziner und als Poetry Slammer inzwischen nicht mehr nur auf Münchens Bühnen unterwegs. Früher hat er sich im Bus in die Hose gemacht, heute schreibt er in der U-Bahn über Scham und das Flirten mit alten Damen.

Von Katharina Federl

Manchmal passiert es, dass sich die Türen der alten Münchner U-Bahnen noch während des Einfahrens in die Station öffnen lassen. "Durchsliden" nennt Henri Kruse das, was er dann macht: Kurz vor dem Stillstand der Bahn setzt er erst einen, dann den anderen Fuß nach draußen. Wenn er daran denkt, muss er schmunzeln. "Geil", so beschreibt er das Gefühl, das er währenddessen verspürt.

Geil findet Henri viele Dinge. Seine früheren Kinderärzte zum Beispiel, die ihn dazu motivierten, Medizin zu studieren. "Zwar kitschig, aber irgendwie richtig geil" findet er seinen Song über einen Mauersegler, der gut fliegen, aber nicht landen kann. Geil seien große Bühnen. Kartenspiele. Die Natur. Und seine Reaktion darauf, dass er zum "Slam 22" in Wien eingeladen wurde, zu den alljährigen deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam? "Das ist ziemlich weird, aber irgendwie geil."

Henri Kruse hat bis vor zwei Jahren Medizin an der Technischen Universität in München studiert. Gerade arbeitet er an seiner Promotion. Nach dem Abitur ist er für ein halbes Jahr nach Tansania gegangen, eigentlich um in einer Krankenstation zu arbeiten. Da er dort kurzfristig keinen Platz bekam, unterrichtete er stattdessen ehrenamtlich an einer Schule. "Obwohl unterrichten schon zu viel gesagt wäre", fügt der 28-Jährige an, der nicht gerne angibt, wenn er über sich selbst spricht.

Aufgegangen ist Henri Kruse weder in der Prosa, noch in seinem Medizinstudium

Neben seiner Promotion gibt Henri Nachhilfe in Mathe, arbeitet als Gärtner, produziert Songs und schreibt Texte, die er inzwischen auf Poetry-Slam-Bühnen in ganz Süddeutschland vorträgt. Wenn man ihn danach fragt, wie er das alles in seinem Alltag unterbringt, dann entgegnet er: "So viel ist das jetzt auch nicht." Vor allem das Schreiben falle ihm leicht, obwohl er erst vor rund sechs Jahren mit Rap-Texten angefangen hat. Zwar habe er in der Oberstufe die ein oder andere humoristische Geschichte geschrieben, sich an Prosa ausprobiert. Über die sagt er aber im Rückblick: "Ich bin nie so richtig in ihr aufgegangen."

Auch in seinem Medizinstudium habe sich Henri in vielen Momenten fremd gefühlt. Seinen Abschluss habe er bekommen, ohne jemals 100 Prozent gegeben haben zu wollen oder zu müssen. In seinen künstlerischen Hochphasen sei er in der Uni nicht sonderlich aktiv gewesen, habe über ein Jahr "fast gar nicht studiert". Stattdessen veröffentlichte er drei EPs, seine Songs tragen Namen wie "Fische Fressen", "Lindgrün" und "lieb mich". Inhaltlich kreisen sie um das Thema Natur sowie die Projektion des eigenen Selbst in ihr. Musikalisch sind sie an den österreichischen Künstler Yung Hurn angelehnt. Über diesen sei Henri 2016 zum Schreiben gekommen, bis heute geben ihm seine Songs das Gefühl: "Egal, wie scheiße sich ein Sound gerade anhört, er ist geil, wenn der Moment stimmt."

Henri Kruse muss grübeln, wenn er nach dem Schlüsselmoment gefragt wird, der ihn zum Poetry Slam brachte. "Den gibt's nicht", entscheidet er schließlich. Über die Jahre habe er sich als Künstler mehr und mehr zugetraut, seine Musik sei immer technischer und rhythmischer geworden. Schon in der Schule habe es ihn genervt, wenn sich die Metrik bei vorgetragenen Texten falsch anhörte. "Jede Silbe muss sitzen", macht er klar, "und mir ist wichtiger, dass die Form des Textes stimmt, als dass jedes Wort perfekt in den Kontext passt." Irgendwann fing er dann mit Gedichten an.

Seinen ersten Auftritt als Poetry Slammer hatte Henri 2019 in der Bar Stragula, damals die größte offene Bühne Münchens. Eine offene Bühne zeichnet sich dadurch aus, dass es keiner Einladung oder Anmeldung bedarf, um auftreten zu dürfen, erklärt er. Heute spricht er im Bahnwärter Thiel vor 250 Menschen, im Oktober ist er zu fünf "Slams" in einer Woche eingeladen, unter anderem in Kempten, Regensburg und Garching. Für die deutschsprachigen Meisterschaften im November wurde er in München nominiert.

Zu jedem Auftritt muss Henri mit einem neuen Text kommen. Inzwischen hat er so viele geschrieben, dass er sie in einem Gedichtband namens "Yuppies im Wald" veröffentlichen will. Viele seiner Gedichte seien gesellschaftskritisch, immer haben sie politische Bedeutung.

Poetry Slam: Seine Texte denkt Henri Kruse sich in der U-Bahn oder auf dem Fahrrad aus, dann tippt er sie in sein Handy. "Ich gehe da nicht wirklich romantisch ran", sagt er.

Seine Texte denkt Henri Kruse sich in der U-Bahn oder auf dem Fahrrad aus, dann tippt er sie in sein Handy. "Ich gehe da nicht wirklich romantisch ran", sagt er.

(Foto: Florian Peljak)

"Auf der Bühne zu stehen, habe ich von Anfang an geliebt", erzählt Henri, dessen aufrechte Körperhaltung und Präsenz sofort auffallen. Vor allem schätzt er die direkte Anerkennung des Publikums, die er bei seinen Auftritten erfährt. Im klinischen Alltag komme das nicht vor, die Arbeit als Arzt sei eben "nur in begrenztem Ausmaß selbstwirksam". Zwar gebe sein medizinischer Abschluss ihm viel Sicherheit und Struktur, dass ihn ein Job im Krankenhaus jedoch nie vollständig befriedigen wird, damit habe sich Henri längst abgefunden.

Wie in Öffentliche Verkehrsmittel könne man auch in Texte für Poetry Slam immer wieder ein- und aussteigen, erklärt Henri. "Das Konzept meiner Texte denke ich schnell zu Ende, habe in meinem Schreibprozess oft keinen festen Anfang und auch kein Ende", führt er aus. Seine Texte denkt er sich in der U-Bahn oder auf dem Fahrrad aus, dann schreibt er sie als Notiz in sein Handy. "Ich gehe da nicht wirklich romantisch ran", gibt er zu, während sich kleine Kuhlen in seine Wangen formen.

Egal, ob sich Henri gerade ein Lachen verkneift oder sich mit kritischem Blick seine nächste Antwort überlegt, in jedem Moment wirkt er selbstsicher und kontrolliert. So, als würde er genau wissen, was er tut. Bei seiner charmanten Art verwundert es kaum, dass seine Freundinnen und Freunde das Flirten mit alten Damen als sein größtes Talent bezeichnen, wie er amüsiert erzählt. In seinem Gedicht "Erbschleicher" greift er dieses auf: "Wenn du denkst, ich sollt' dann mal mit der Oma konferieren, denn sie ist ja so allein. Nun, sie kann mich engagieren, dann ist dein Gewissen rein."

In einem seiner anderen Gedichte geht es um das Gefühl der Scham, das Henri gut kennt, wie er offen erzählt - obwohl man ihm dieses im ersten Moment vielleicht nicht direkt zuschreiben würde. Scham verspürt Henri etwa, wenn er Dinge wie Bewerbungsschreiben, die er unter dem Begriff "Alltagsshit" zusammenfasst, durch Prokrastination verdrängt. Oder wenn er erkennt, dass er politisch aktiver sein könnte. Auch manche Situationen aus seiner Kindheit verbindet er mit diesem Gefühl. Eine davon greift er in "Schäm dich" auf: Als er einmal auf einer Busfahrt von seiner Grundschule nach Hause war, hat er sich drei Minuten vor der Haltestelle in die Hose gemacht, weil er vergessen hatte, vorher auf die Toilette zu gehen. Hätte er damals nur schon zwischen der Tür durchsliden können, ihm wäre wohl einiges erspart geblieben.

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