Süddeutsche Zeitung

Neues Album von Philip Bradatsch:Wärmende Lieder für die kalten Keller unserer Seelen

Der Münchner Musiker Philip Bradatsch hat sein neues Doppel-Album analog in Hamburg aufgenommen und streift mit seiner Band durch Jahrzehnte der Rockmusik.

Von Christian Jooß-Bernau, München

Die Feuchtigkeit kriecht in die Knochen, unter den Bäumen modert das Laub. Und wieder ist man um einen Monat dem Ende nähergerückt. Eine wachsende Gruppe Mitbürger tickt nicht mehr richtig, und die Gesamtlage hängt schief im Rahmen. Das beste wäre, die Türe zu schließen, ein Bier zu öffnen, eine Platte aufzulegen, sich auf die Couch zu setzen und den Hund zu streicheln. Und die Erkenntnis in diesem November 2021: Es hält einen nichts davon ab. Nein, es ist das Einzige, was bleibt.

"In kalten Kellern unserer Seelen / kann uns die Hoffnung keiner nehmen", singt der Mann in den Lautsprechern. Und der Sound dieser Band hat in dieser ersten Nummer einen leichten Anflug von 80er-Jahre-Euphorie. Nicht viel. Nur so wie der aufgestellte Kragen einer Jeansjacke. Darauf noch ein Bier. Weil nicht alles falsch sein kann, in diesem Herbst, gibt es ein neues Doppel-Album von Philip Bradatsch. "Die Bar zur guten Hoffnung" heißt es und erscheint bei Trikont.

Erst im Februar 2020 hatte er mit "Jesus von Haidhausen" entdeckt, wie fabelhaft er auf Deutsch singen kann. Dann ist er Ende letzten Jahres wieder nach Hamburg gefahren, zu Dennis Rux in die Yeah! Yeah! Yeah!-Studios. In dieser trüben Corona-Zeit haben er und seine Cola Rum Boys sich zehn Studiotage gegeben. Sehr viel wertvolle Zeit, die sie nutzten, um zu tun, was heute selten ist: im Studio ein Werk zu schaffen, das nicht abgefilmte Bandrealität ist, sondern ein eigenständiges Stück Recording Art. Bis zur Aufnahme auf teurem Band analog.

In diesem Studio stand auch noch ein Mellotron, dieses völlig irre unpraktische Instrument, ohne das "Strawberry Fields" nicht der Song wäre, der er ist. Nachfolgende Generationen werden das nur noch als digitalen Software-Nachbau kennenlernen. Bei "(Dich werd ich erinnern) Theresa" schafft es ein Intro, das fühlbar macht, dass die Schönheit eines aus Tonbändern Musik schöpfenden Instruments nicht virtualisiert werden kann. Wie eine kleine Parfumwolke weht eine Erinnerung an die Liebe von einst durch den Song und seine Rätselsätze. Bradatsch, Wolfgang Dinter, Florian Ernszt, Tobias Hieber und Studio-Chef Rux haben in die Soundtiefe gearbeitet, und man hört bei jeder Nummer die Lust daran. Dass nichts hier Spielerei ist, liegt an den analogen Produktionsbedingungen, bei denen jeder weiß, dass sein Einsatz einzigartig ist, festgehalten auf Magnetband.

So haben sie mit Blick auf Jahrzehnte der Rockmusik ein Album geschaffen, das seine eigene Zeit schafft. Auch physisch haben sie gegen das gewohnte Digitale gearbeitet. Für "Abgehängt" schleppten sie das Schlagzeug ins Treppenhaus. Nur hier gab es diesen Hall. Der Song beginnt als Pianoballade: "Ein Stück zu weit / zurück zum Teufel gehn / Sanft betäubt / Citralopram und Codein" - die "alte Gang" ist plötzlich wieder da. Eine Erinnerung an früher. Zigaretten vor der Tür. "Straßenkehrmaschinen, ewig missverstanden." Philip Bradatschs Texte sind wie die Ideen, die sich im Moment des Einschlafens so richtig anfühlen und die man im hellen Licht der Realität niemals in dieser Klarheit reproduzieren könnte. Und dann schiebt sich der Song über eine kurze Erinnerung an "Pinnball Wizzard" von The Who hinein in eine gigantische Welle. So wie einst "Bridge over troubled Water". Wo irgendwann der ganz große Rumms fast den kompletten Frequenzbereich abdeckte. Fade-Out. Ganz langsam. Und dann drehen sie den Sound wieder rein. Studiozauberei.

Bradatsch ist Beat-Poet. Dankenswerterweise mit Humor, der beispielsweise "Schattenkapitän" eine Schwerenöterhaftigkeit verleiht, die die Schwerkraft der Sätze aufhebt. "Ich bin aufs Dach der Welt gefallen am anderen Ufer der Zeit. / Da ist nichts was einen hält am Anfang der Vergangenheit" - so beginnt "Schatten überm Land". Endlich sagt es mal einer. Aber was heißt das genau? Ist doch egal, sagt der Hund und gähnt auf dem Sofa. Er liebt diesen Sound mit der Jingle-Jangle-Gitarre, diesen breit wehenden Flow, wie ihn einmal Tom Petty hatte. Damals zwischen St. Augustin und Gainesville.

Der letzte Song: "Die große Liebe kehrt zurück, PT. II". Ein Geräusch wie das letzte Filmband, das durch den Projektor läuft. So reißt der Song ab. Es ist kein Effekt. Das Tonband war aus. Nochmal die Nadel aufsetzen. Das immer noch zu wenige begriffen haben, was für einer da seit einer Weile die Bühne betreten hat, kann einem für die Dauer dieses Albums genauso egal sein wie die Impfquote. Gehen wir zwei nochmal raus, fragt der Hund. Wird wohl Zeit. Nicht unwahrscheinlich, dass man auf dem Weg den Giesinger Berg hinunter ins Glockenbachviertel Philip Bradatsch trifft, der so vor sich hin wandert, während in seinem Kopf die Straßen der Stadt zu Text werden.

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