Süddeutsche Zeitung

Schicksale:Mit dem Klavier in die Anden

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"Es gibt so viele misshandelte, verlassene, unterernährte Kinder und so viele Schicksale": Juan Chuquisengo und Teresa Brunnmüller veranstalten ein großes Solidaritätskonzert für Waisenhäuser in Lateinamerika.

Von Joachim Käppner

Der Transportwagen ist geländegängig, so weit oberhalb von Cusco gibt es meistens nur Rumpelpisten. Die Fracht ist sorgfältig befestigt, denn sie ist kostbar: ein Klavier. Inzwischen wissen manche Kinder in den Indiodörfern schon, was das ist, für die anderen mag es zunächst nur ein seltsames Gebilde sein. Viele Menschen und zumal die Kinder der peruanischen Anden, in Dörfern, die zwischen 3500 und 4600 Meter hoch liegen, haben noch niemals ein Piano gesehen oder gehört. Deswegen kommt das Piano zu ihnen.

Für Juan Chuquisengo ist es eine Mission. Der in München lebende peruanische Komponist und Konzertpianist, in seiner Heimat ein bekannter Musiker, fährt so oft er kann hoch in die Berge, 120 Mal hat er schon für die Kinder und mit ihnen gespielt. Chuquisengo wuchs in einfachen Verhältnissen auf, in der Hauptstadt Lima; aber die Armut, die er in den Anden sah, erschreckte ihn. 2012 begann er seine Reisen zu Gratiskonzerten in die Berge, getragen wird das Projekt von der Jesuitengemeinde Perus. "Diese Reisen waren der Anfang, unsere Inspiration", sagt der Pianist.

Die Inspiration zu einem jährlichen Solidaritätskonzert, das binnen kurzer Zeit zu einer festen Einrichtung für Münchens lateinamerikanische Community geworden ist und am Sonntag in der Freiheizhalle zum dritten Mal steigt - größer als je zuvor. 2017 hatte das Projekt noch recht klein im Kulturzentrum Hasenbergl begonnen. Spenden der Gäste und die Einnahmen gehen, wie die Veranstalter versichern, vollständig an jeweils zwei Kinderhilfsprojekte in wechselnden Ländern Lateinamerikas. Juan Chuquisengo und die Münchner Kulturagentin Teresa Brunnmüller als Hauptorganisatoren arbeiten dazu mit vielen Freiwilligen und Helfern zusammen.

Mit Lateinamerika, seiner Kultur und seinen Problemen kennt sich Teresa Brunnmüller aus, seit sie 16 Jahre alt war und die Sommerferien bei Freunden der Eltern in Quito, Ecuador, verbracht hat. Dort lernte sie Spanisch und verbrachte später noch einmal ein ganzes Jahr dort. Mit Chuquisengo, den die heute 29-Jährige in einem Münchner Tangosalon kennenlernte, entschloss sie sich, Hilfsprojekte zu unterstützen wie jene, die er auf seinen travesias musicales, den "musikalischen Reisen", kennengelernt hatte. Immer stehen Kinder im Mittelpunkt. "Wir hatten aber bald die Idee, die Solidaritätskonzerte nicht auf ein Land Lateinamerikas zu begrenzen", sagt sie, "sondern offen für diesen gesamten reichen Kulturraum zu sein."

Juan Chuquisengo sagt von sich, er stehe der Amtskirche nicht nah: "Aber es hat mich tief beeindruckt, wie selbstlos Padres und Nonnen sich um Kinder in Not kümmern. Es gibt so viele misshandelte, verlassene, unterernährte Kinder und so viele Schicksale." Einmal spielte er in der alten Inka-Hauptstadt Cusco, in dem Kinderheim "Wawa Etxea". Er lernte, wie er erzählt, einen Jungen kennen, Adriano, der seine ersten beiden Lebensjahre im Gefängnis verbracht hatte, in dem die Mutter einsaß, der Vater war nicht bekannt. Als Adriano zwei war, wurde er von der Mutter getrennt und in ein Heim gesteckt, mit Glück landete er in "Wawa Etxea", wo die Kinder lernen, wohnen und betreut werden. Ein anderer Junge fiel ihm auf, "weil er so sensibel wirkte und so lieb zu den anderen war". Die Heimleiter erzählten ihm die Geschichte: Das Kind habe mit ansehen müssen, wie der Vater die Mutter erschlug, es habe sie retten wollen und dem Vater ein Küchenmesser in die Nieren gestoßen. Beide Eltern waren tot, das Kind gerade sieben Jahre alt.

Aus "Wawa Etxea" stammt auch ein Geschenk, das Chuquisengo besonders wichtig ist: Ein Gemälde, das ein 15-Jähriger namens Willians von einem anderen Freund in diesem Heim angefertigt hat und das nun die Eintrittskarte ziert, "ein Bild, das Frohsinn und Hoffnung verkörpert", sagt Teresa Brunnmüller, sie habe Tränen in den Augen gehabt, als sie es auspackten. Im Heim offenbarte Willians ein außerordentliches Maltalent. Das Problem ist, dass der junge Maler das Heim nun verlassen müsse, sagt Chuquisengo, mit 16 ist Schluss: "Die Sozialarbeiter müssen es tun. Aber sonst könnten sie keine kleinen Kinder mehr aufnehmen. Um Ältere zu behalten, reicht das Geld leider nicht." In Willians' Fall scheint es ein glückliches Ende zu geben, fürs Erste: Er wird wohl in die Kunstakademie von Cusco aufgenommen.

In diesem Jahr sind Empfänger des Geldes El Amanecer in Bolivien und dem Hogar Monserrate in Kolumbien. Letzteres ist heute das Zuhause von 50 Jungen und Mädchen zwischen fünf und zwölf Jahren, meist ehemalige Straßenkinder. Hier kümmern sich Pädagogen und Ehrenamtliche um sie, es gibt ein einfaches Schulhaus und einen großen Garten, in dem sie Obst und Gemüse anbauen. El Amanecer dagegen ist ein Sozial- und Bildungszentrum in der Stadt Tarija, in einem der ärmsten Viertel, wo auch die Müllhalde und das Gefängnis liegen. Teresa Brunnmüller hat die Zustände dort selber gesehen: "Viele Kinder gehen nicht zur Schule und haben keinen Zugang zu Bildung, weil den Eltern das Geld fehlt; El Amanecer hilft diesen Kindern."

Die Veranstalter der Solidaritätskonzerte legen großen Wert darauf, die Partner in den Hilfsorganisationen persönlich zu kennen. Juan Chuquisengo sagt: "Man soll sich nichts vormachen, das größte aller Probleme in Lateinamerika ist die Korruption. Wir setzen daher auf völlige Transparenz, was mit unseren Einnahmen geschieht, und achten sehr sorgfältig darauf, wer sie erhält und was er damit macht."

Wenn es nach den Veranstaltern und ihren Freunden und Unterstützern geht, soll das Projekt weiter wachsen. Im Anschluss an das Konzert gibt es gegen Eintritt eine "Fiesta Latina"; sagt Chuquisengo und lacht: "Tanzen und helfen und feiern - für Latinos ist das kein Widerspruch."

3. Großes Solidaritätskonzert Lateinamerikas. Freiheizhalle, Rainer-Werner-Fassbinder-Platz 1. Sonntag 20. Oktober, Eintritt 12 bis 20 Euro, Einlass von 16 Uhr an. Weitere Infos unter www.solidaritaetskonzerte.org

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Quelle:
SZ vom 16.10.2019
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