Süddeutsche Zeitung

Viertel-Stunde:Expedition zu den Riesenkränen

Lesezeit: 2 min

Ein Streifzug durch das neue Wohnquartier an der Peter-Anders-Straße wartet mit spannenden Ein- und Ausblicken auf

Kolumne von Jutta Czeguhn

Wer es leid ist, dieses anstrengende Mitläufertum auf den Wegen im Pasinger Stadtpark oder im Blutenburg-Park zu ertragen, wer keine Lust mehr hat auf Slalom um vermeintlich Unheil bringende Mitmenschen, auf Fahrradklingeln und Windschatten-Jogger, der muss sich eben neue Spazier-Routen ausdenken. Aber finde mal eine Terra incognita, ein neues Planetensystem in einem doch recht überschaubaren Stadtbezirk. Ein kreativer Vorschlag könnte lauten: "Gehen wir halt ein paar Architekturkatastrophen gucken."

Startpunkt ist die Ecke Paul-Gerhardt-Allee/Peter-Anders-Straße, quasi das Eingangstor ins neue Wohnquartier. Die Swinger-Clubs dort schlummern ihren Tagesschlaf. Ob hier nachts etwas los ist? Das möchte man gar nicht wissen. Der italienische Feinkosthändler, den es seit bald 40 Jahren gibt, er hat geöffnet. Ein Kunde kommt mit einem vollen Einkaufswagen raus, Weinkartons. Ansonsten scheint die Welt an der Peter-Anders-Straße wie entzwei geschnitten. Auf der einen Seite, das Fitness-Studio, in dem sich niemand bewegt, dann das verschlossene Gebrauchtwarenhaus Halle 2, in dem die alten Dinge nun noch geduldiger darauf warten müssen, wiederentdeckt zu werden. Auf der Südseite der Straße dann aber alle lärmenden Tonsignale einer Großbaustelle, die auch durch Corona nicht zu stoppen ist, "anders wohnen" verheißt ein Bauschild. Mehr als 5000 Menschen werden im 35 Hektar großen neuen Karree bald leben, eine Vorhut ist schon da, wie Namen an Klingelschildern, geparkte Fahrräder und Kinderwagen verraten. Wir quetschen uns an einem Bauzaun entlang Richtung Osten, wo eine Lärmschutzwand das neue Quartier von der Bahnlinie trennt. Ein Landschaftspark ist hier entstanden, mit erstaunlich großzügigen, geschwungenen Wegen, Fußgänger und Radfahrer können sich auf getrennten Spuren bewegen. Man kommt an Sitzbänken vorbei, die erst noch eingesessen werden müssen. Nichts regt sich auf den Spielplätzen hinter den Zäunen, ein Kletterturm hat die Form eines Heißluftballons, ein anderer sieht aus wie ein zweimotoriges Flugzeug. Als wäre der Flieger-Poet Antoine de Saint Exupéry damit hier in der Baustellenwüste gelandet, um eine neue Geschichte an den Start zu bringen.

Doch so leer ist die Wüste nun auch wieder nicht, mit einem Mal kommen einen immer mehr kleine Spaziergänger-Expeditionstrupps entgegen. Und auf dem eingezäunten Fußballfeld spielen junge Menschen, über deren Verwandtschaftsgrad man besser nicht grübelt. Der Weg biegt um eine Anhöhe, die im Winter einen genialen Rodelberg abgeben wird. Der Ausblick von dort oben über dieses fremde Terrain ist spektakulär. Man sieht Riesenkräne, Riesenbaugruben, Architekturen, die gar nicht so katastrophal sind. Und in der Ferne den altvertrauten Turm der Pfarrkirche Maria Schutz, der einem signalisiert: "Hey, du bist immer noch in Pasing!"

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Quelle:
SZ vom 25.04.2020
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