Lebensräume Pasing:Wenn das Fundament wegrutscht

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Begegnungsort für psychisch belastete Familien. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Lebensräume Pasing bieten sowohl psychisch kranken Eltern als auch deren Kindern praxisorientierte Hilfe an. Mit einem solchen Konzept tun sich öffentliche Kostenträger aber schwer. Die Finanzierung ist in Gefahr

Von Jutta Czeguhn, Pasing

"Die Kleine war hochdepressiv, die hat sich die Spaghetti mit dem Tauchsieder in der Badewanne warm gemacht, dem einzigen sauberen Platz in der Wohnung. Die hatte keine Lust mehr auf Leben." Es braucht Zeit, um dieses Bild wieder aus dem Kopf zu bekommen, diese Geschichte von der Elfjährigen, die sagt, sie wolle sich umbringen, weil sie das alles nicht mehr aushält. Und von ihrer Mutter, die beschwichtigt, "nein, die meint das nicht ernst, die hört das nur immer von mir". Johannes Britsch hat keinen Grund, sein Gegenüber mit dieser Fallbeschreibung zu schockieren - oder zu schonen.

Der Leiter der "Lebensräume" Pasing sitzt am großen Tisch in einem freundlichen Raum in einer dieser typischen Kolonievillen. Die Einrichtung der Inneren Mission ist dort seit 2012 untergebracht. Eine gehobene Wohngegend. Soziale Verwahrlosung, Kinderleid, das scheint sehr weit weg zu sein. Und doch, aus der ganzen Stadt und dem Umland kommen Menschen wie die Elfjährige und ihre psychisch kranke Mutter hierher und suchen Unterstützung. Aktuell sind auch die Lebensräume selbst auf Hilfe angewiesen. An diesem Donnerstag entscheidet sich im Stadtrat, ob Britsch und sein Team auf Dauer weiterarbeiten können. Es geht um 102 484 Euro, aber eigentlich um mehr als nur Geld.

Johannes Britsch, Leiter der Lebensräume, sorgt sich um die Finanzierung. (Foto: Gino Dambrowski)

Die Situation ist ernst. Ernster als in all den Jahren seit 2012, denn das finanzielle Fundament dieses alten schönen Hauses und der Menschen darin droht wegzurutschen. Johannes Britsch hat eine sehr anschauliche Methode, einem dieses Konstrukt zu erklären. Ein Holzhaus steht vor ihm auf den Tisch, zusammengesetzt aus bunten Klötzchen, einige tragende - die Stiftungsgelder - werden von 2021 an zu großen Teilen wegbrechen. Er greift nach einigen Klötzchen, alles gerät ins Wanken. Für die Lebensräume ist das fundamental existenzbedrohend - wenn die Stadt nicht einspringt. Was laut Johannes Britsch eigentlich längst hätte geschehen sollen. "Alles kein Problem" sei ihm damals, bei der Gründung, suggeriert worden. Nach drei Jahren Anschub durch private Spender werde die Regelfinanzierung bald kommen. "Das war blauäugig von mir gedacht", sagt Britsch. Dann findet der Sozialpädagoge wieder so ein einprägsames Bild: Die Lebensräume, die seien wie vernachlässigte Bürotopfpflanzen, die vor sich hindarbten, unter großem Bedauern der Belegschaft. Aber keiner greife zur Gießkanne. Warum auch? Man sei ja nicht zuständig.

Wie kann man psychisch kranken Müttern und Vätern dabei helfen, gute Eltern zu sein? Und ihre Kinder stark machen, mit der schwierigen Situation umgehen zu lernen? Ausgehend von diesen drängenden Fragen brachten die Psychologin Susanne Oberhauser-Knott und Sozialpädagogin Stephanie Kramer, beide Mitarbeiterinnen der Inneren Mission, das Projekt auf den Weg. Die alte Villa an der Fritz-Reuter-Straße mit ihrem großen Garten, durch eine Stiftung im Eigentum der Inneren Mission, erwies sich als idealer Ort, um so ein bis dahin deutschlandweit einmaliges Projekt zu starten. Mit niederschwelligen, präventiven und praxisorientierten Angeboten für Eltern und Kinder; wie etwa Kunsttherapie, Ausflüge, Yoga, Erziehungs- und Ernährungscoaching, Hausaufgabenhilfe, eigene Werkstatt, Krisenmanagement. Alles unmittelbar und sofort, ohne Anmeldung, ohne Formulare und kostenlos.

Ein Holzhaus steht auf dem Tisch, zusammengesetzt aus bunten Klötzchen, einige tragende - die Stiftungsgelder - werden von 2021 an zu großen Teilen wegbrechen. (Foto: Gino Dambrowski)

Selbst bei den Spendenorganisationen sei man angesichts dieses unkonventionellen Gemischtwarenladens ziemlich irritiert gewesen, erinnert sich Johannes Britsch. "Es hieß, wir würden in allen Töpfen wildern, dabei bieten wir das an, weil wir das alles können." Während die privaten Geldgeber wie der Lions Club, die Hoffmann Group, die Edith-Haberland-Wagner-Stiftung, die Sternstunden oder der Verein Kinder ohne Hunger das Konzept akzeptierten und auch über die drei Anschubjahre hinaus finanzierten, haben sich die öffentlichen Kostenträger bis heute schwergetan mit diesen Lebensräumen, die in keine Schublade des Sozialgesetzbuches passen wollen. Ist doch normalerweise das Jugendamt nur für psychisch kranke Jugendliche zuständig, der Bezirk Oberbayern ausschließlich für die Erwachsenen mit seelischen Leiden. Aktuell gibt es vom Referat für Gesundheit und Umwelt jährlich immerhin rund 36 000 Euro, vom Stadtjugendamt um die 26 000 Euro.

Der Bedarf indes steigt, das wurde laut Britsch mittlerweile sogar wissenschaftlich unterlegt durch Masterarbeiten von Hochschülern. Die Lebensräume waren während der Lockdown-Phase im Frühjahr geöffnet und sind es auch jetzt, fünf Tage in der Woche. "Corona ist ein wahnsinniger Brandbeschleuniger", stellt Britsch fest. Viel vom dem, was man mit den Eltern und Kindern geduldig zusammen aufgebaut habe an Sozialisierung, entgleite nun. Ängste würden wieder stärker, das Gefühl der Ausweg- und Perspektivlosigkeit, und, ja, auch die Suizidgedanken. Britsch registriert deutlich mehr Schulabsenzen bei den Kindern, und es werde zunehmend kompliziert, den Jugendlichen Praktikumsplätze zu vermitteln. Bei den ohnehin schon kontaktarmen allein erziehenden Müttern wachse die Einsamkeit.

Aktuell arbeitet das fünfköpfige Team - Teilzeitler sind sie alle - coronabedingt im Eins-zu-eins-Kontakt mit den Klienten. Zu normalen Zeiten aber muss man sich dieses alte, verwinkelte Haus wohl als summenden Bienenhaufen vorstellen. Wo Kinder im Garten spielen oder in der Werkstatt basteln, während drinnen eine Mutter über ihre Depressionen spricht, wo jemand das Hochbeet bepflanzt oder Mathe büffelt. Und wo man gemeinsam kocht. Wo vor dem Abendessen die Klangschale geschlagen wird. Ein Kind darf dann erzählen, was an diesem Tag gut war in den Lebensräumen.

© SZ vom 19.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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