Kommentar:Ein echtes Dilemma

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Genossenschaften bieten Mietern viele Vorteile, trotzdem werden ihnen manchmal zum Wohl der Mehrheit aber Opfer abverlangt

Von Jutta Czeguhn

Münchner Mieter, die in einer Genossenschaftswohnung leben, schlafen des Nachts definitiv besser. Sie müssen sich kaum Sorgen machen, dass ihnen alle drei Jahre die nächste Mieterhöhung ins Haus flattert, gegen die sie sich nicht wehren können. Oder eine Modernisierung angekündigt wird, die eigentlich eine Sanierung ist, aber dann doch, nach ein paar unstatthaften, aber juristisch völlig unangreifbaren Winkelzügen, auf ihre eh schon hohe monatliche Belastung umgelegt wird. Sie müssen auch nicht fürchten, dass ihnen im Treppenhaus von einen Tag auf den anderen das Geländer abhanden kommt, dass das Heißwasser lauwarm aus dem Hahn tröpfelt oder die Bude kalt bleibt. Auch müssen sie nicht, wie die Mieter "von privat", ständig um die körperliche und geistige Gesundheit des alten Eigentümers bangen, dessen Nachkommen sehr aufmerksam die Prognosen über ungebremst steigende Immobilienpreise verfolgen.

Da man in Städten wie München als Mieter auf den kommunalen sozialen Wohnungsbau schon lange nicht mehr bauen kann, sind Genossenschaften das Modell der Gegenwart und der Zukunft - und schon gar kein Relikt der Vergangenheit. Wenn jetzt die Heimstättenbaugenossenschaft Pasing eG, die es über 100 Jahre gibt, ankündigt, 70 neue preisgünstige Wohnungen zu schaffen, dann ist das eine großartige Nachricht. Erst mal für ihre Mitglieder und deren Angehörige, aber auch für alle, die sich mehr genossenschaftliches, zukunftsorientiertes Engagement in der Stadt wünschen.

Dass es bei diesem Projekt nun auch Verlierer gibt, ist ein echtes Dilemma. Für die Bewohnerinnen und Bewohner bedeutet die Ankündigung, dass ihre beiden alten Genossenschaftshäuser abgerissen werden und Neubauten weichen sollen, schlaflose Nächte. Ein nachbarschaftliches, beinahe dörfliches Gefüge, wie man es in München kaum mehr findet, droht verloren zu gehen. Generationen leben hier nahe beieinander, von der Uroma bis zum Urenkel, und unterstützen sich gegenseitig. Sie als Mieter können in Anspruch nehmen, was sonst nur Eigenheimern vorbehalten ist, Gärten mit Obstbäumen, die mehr sind als ein handtuchgroßes Rasengrün. Platz, Luft zum Atmen, der gerade in Pandemie-Zeiten wertvoller ist denn je. Nun wird ihnen durch die Situation nahe gelegt, dass ihnen dieses "Privileg" nicht länger zusteht. Sieben alte Wohnungen versus 70 neue. Eine Moralkeule, die niemandem zugemutet werden sollte.

Die Mieter sind nicht naiv, sie wissen, dass sie denkbar schlechte Karten in den Händen halten. Umso mehr sollte man ihnen Respekt zollen, dass sie nun um ihr "Paradies", wie sie es nennen, kämpfen wollen. Zumal mit den beiden Häuser dann auch ein weiteres Stück Pasinger Identität verloren gehen wird.

© SZ vom 21.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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