Süddeutsche Zeitung

Orthopädie:Mit dünnen Ledersohlen gegen Rückenschmerzen oder Tinnitus

Ob für Ribéry, Nasa-Astronauten oder Nachbarn: Constantin Bernhard fertigt seit 53 Jahren Einlagen in seiner Münchner Werkstatt und lindert damit viele Leiden. Manchmal reicht dafür ein Blick.

Von Philipp Crone

Olympiasieger Linford Christie und der Klumpfuß sind direkte Nachbarn. In einer kleinen Holzvitrine steht das Modell eines unwirklich verformten Fußes neben den originalen Schuhen des britischen Goldmedaillengewinners über 100 Meter von 1992. In den Schuhen, die nur aus einer dünnen Stoffschicht, einer Sohle und Spikes bestehen, liegt noch die Einlage, die Christie in Barcelona trug. Handgefertigt von Constantin Bernhard, der den Schuh in die Hand nimmt, ein knapp 30 Jahre altes federleichtes Nichts.

Bernhard ist 83 Jahre alt, trägt eine graue Jogginghose in seinem Geschäft, weil es Mittag ist und er schon seit der Jugend mittags eine Stunde schläft. Zwischen den Terminen mit seinen Kunden, die durch die Tür am Hohenzollernplatz kommen und ein holzgetäfeltes Kabuff betreten. Von diesem Kabuff mit einer mechanischen Kasse und einer Treppe nach oben in den Werkraum geht auch eine Treppe sechs Stufen in ein noch kleineres holzverkleidetes Kabuff. Schwer vorstellbar, wie Uli Hoeneß hier runterkraxelt, oder der König von Saudi-Arabien, Muammar al-Gaddafi, Anna Kurnikowa oder Franck Ribéry.

Eher noch kann man sich Astronauten der Nasa vorstellen, die aus Houston an den Hohenzollernplatz für ihre Einlagen kommen. Raumkapseln sind ja auch eng. Aber Zwei-Meter-Basketballriesen aus der NBA? Waren alle da. In seiner "Scheißhüttn", sagt Bernhard und zieht das braun gebrannte Gesicht mit den vielen Furchen zu einem Luis-Trenker-Lächeln. Der Fuß-Weise in seiner Almhütte, mitten in der Stadt, zu der alle pilgern, die irgendwo Schmerzen haben.

Die schaut Bernhard dann an, wie er das seit vielen Jahrzehnten macht, und überlegt, was er verbessern kann. Einlagen, dünne Stoffpolster, die in Schuhen liegen, gegen Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Tinnitus und dergleichen?

Bernhard spricht langsam, in einem Schwabinger Singsang, wobei sämtliche Fachbegriffe dialektfrei durch die kleine Hütte klingen: "Einlagen sind dazu da, um das, was funktionell am Körper gestört ist, mechanisch auszugleichen." Und offenbar hat Bernhard einen Blick entwickelt, der nach Diagnose und Fertigung zu sehr guten Ergebnissen führt. Sonst wäre die Mappe seiner Fußabdrücke im Schrank neben dem Klumpfuß und Christies Schuh nicht eine Sammlung von Bekanntheiten.

Angefangen hat es mit den schlimm deformierten Füßen der Kriegsversehrten, und einer ziemlich deutlichen familiären Vorprägung. "Mein Urururgroßvater war 1802 approbierter Bader." Und Bernhards Urgroßvater, der auch bereits Constantin hieß, musste nicht in den Zweiten Weltkrieg, weil er sich um die Kriegsversehrten kümmern sollte. Und Bernhard? Wollte Förster werden, "wia der Kriag gar war". Bernhard wischt das weiche Bairisch durch seine kleine Hütte, langsam und ein bisschen geschludert. Aber aus dem Förster wurde nichts.

"Burli", habe ein damaliger Oberförster zu ihm gesagt nach dem Krieg, "ich hab' keine Arbeit für dich." Jede Menge davon gab es aber im Betrieb des Vaters, als der aus dem Krieg zurück und ins zerbombte Geschäft kam. Der Sohn ging also mit 14 in die Lehre. Er half mit, die übergebliebenen Gerätschaften zu bergen und an der Ecke Leopold- und Hohenzollernstraße ein neues Geschäft zu eröffnen. Die Mutter fuhr mit dem Zug regelmäßig aufs Land, um dort den Bauern Hosen zu flicken und mit Essen entlohnt zurückzukommen, während die Männer orthopädische Schuhe herstellten.

"Des war mia ois ned vui gnua"

Bernhard arbeitete und ging zur Realschule, machte Abi und die Orthopädie-Techniker-Meisterprüfung, ging an die Sanitätsakademie. Wer mit 83 noch jeden Tag im Laden ist und sich einen "Besessenen" nennt, ist als junger Mann auch schon schwer aktiv gewesen, in seinen Worten: "Des war mia ois ned vui gnua."

Arbeiten und lernen. "Wir hatten viele Panzerfahrer aus Grafenwöhr, die mit schlimmen Sprunggelenksverletzungen kamen, weil sie vom Panzer gesprungen waren." Er sah Versehrte, Verletzte, assistierte bei Operationen. Heute würde man sagen, er füllte seine Festplatte mit Erfahrungen. Bernhard hat aber noch nicht einmal ein Handy, geschweige denn einen Computer in seiner Werkstatt. Es spielt sich alles in dem Kopf mit den kurz geschnittenen grauen Haaren. Zum Beispiel, als an diesem Mittag ein Mann Anfang 40 sein Geschäft betritt.

Bernhard schaut ihn kurz an, deutet auf seinen Hals und erklärt, dass man auf der linken Seite einen angespannten Halsmuskel sehen könne. "Schiefhals, das kommt oft von einem Augenunterdruck." Der Patient hat in so einem Fall schnell ermüdende Augen und versuche unterbewusst, durch eine andere Kopfhaltung den Blickwinkel zu verändern und dadurch schärfer zu sehen. Die Lösung in diesem Fall wäre allerdings keine Einlage, sondern eine andere Brille.

Wilhelm Widenmayer, seit Jahrzehnten Mannschaftsarzt der Profimannschaft der Fußballer beim TSV 1860 München, sagt: "Bernhard hat sehr viel Erfahrung mit der Funktionsanalyse des Fußes." Er könne den Ärzten wie kein zweiter seine Beobachtungen weitergeben, wo zum Beispiel Gelenke blockiert seien. "Und er kann die ganz schwierigen Einlagen, etwa die für Balletttänzer." Vor allem aber fertige er Einlagen, an die sich der Fuß anpassen müsse, weil er sehe, wo der Fuß korrigiert werden muss. "Die meisten sagen aber: Die Einlage muss sich dem Fuß anpassen."

Der Besessene in seiner Hütte. Die Frage ist, ob er besessen war oder wurde. In einer Zeit, in der es kaum etwas gab außer dem Wissen um Füße und deren Behandlung, hat sich Bernhard dieses Wissen angeeignet. Später kamen die Erfolge dazu. Einlagen, die Menschen Linderung brachten. Wahrscheinlich ist es also beides. Er musste am Anfang etwas besessen sein, aus reiner Existenzangst, und blieb es, weil er immer mehr erkennen konnte und in eine Fußplattenlösung übersetzen.

Seit 53 Jahren arbeitet er in diesem Beruf. Kommen die Leute heute mit anderen Problemen? "Eigentlich nicht. Ich finde ja sogar, dass sich viele heute mehr bewegen als früher." Und das ist wichtig. Manche Tendenzen nimmt Bernhard aber schon wahr. Man trage heute engere Schuhe, was die Statik beeinflusse, und viele würden joggen, um Sport zu treiben, "dabei wäre Radfahren oder Schwimmen besser". Etwa 80 Prozent aller Menschen hätten grundsätzlich eine Fehlstatik, sagt Bernhard, und nahezu 100 Prozent bewegen sich in konfektionierten Schuhen, also solchen, deren Einlagen nicht zum Fuß passen. Außer bei den Sportlern, bei denen die Sporteinlage seit Jahrzehnten zur Grundausstattung gehört wie die Banane in der Halbzeit. Die ihren Körper allerdings auch ganz anders belasten als ein Büromensch, und statische Fehlstellungen deshalb sehr schnell zu Verletzungen führen.

Bernhard erinnert sich, wie Uli Hoeneß, damals noch Präsident des FC Bayern, einmal anrief und ziemlich geknickt war, weil Franck Ribéry schon so lange verletzt war. Bernhard war eine seiner letzten Hoffnungen. Ribéry kam, bekam Einlagen, wurde fit. Sein Fußabdruck liegt zwischen Kahn und Helmer.

Egal ob ein junges Mädchen oder ein millionenschwerer Fußballprofi, jeder steigt auf die präparierte Fußplatte und drückt ein Papier auf eine Art Stempelkissen, so dass hinterher die Gewichtsverteilung blau auf weiß zu erkennen ist. Mit diesem Bild und dem Blick auf den Patienten und dessen Bewegungsablauf ruft Bernhard dann auf seiner Kopf-Festplatte Hunderttausende Erfahrungen ab, ehe er zur Tat schreitet, oben, im ersten Stock.

Man muss auf dem Weg an einer kleinen Devotionalienwand vorbei, ehe es auf eine knirschende schmale Treppe geht. Wimpel von Fußballclubs hängen da und einer von den Denver Nuggets, einem Basketballteam der NBA, wo der Serbe Rastko Cvetković gespielt hat. "Der kam hier an, parkte mit seinem Lancia und als er ausstieg, hab ich gesehen, dass er den Vordersitz ausgebaut hatte und von der Rückbank aus fuhr." Cvetković ist Zweimetersechzehn groß; sein Leben ist wahrscheinlich eine einzige statische Fehlhaltung. Dessen Einlage war dann deutlich größer als die des Olympiasiegers im Gehen von Melbourne, dem Neuseeländer Norman Read. "Der hatte eine ganz schiefe Achillessehne", sagt Bernhard und zieht dessen Schuh aus einem Regal. Daneben liegt einer von einer 16-jährigen Deutschen Meisterin im Hochsprung, der ist richtig schief.

Löwen-Teamarzt Widenmayer sagt: "Bernhard hat die Bedeutung und den Stellenwert von Einlagen im Leistungssport durch seine Arbeit deutlich nach oben gesetzt." Wenn er aufhöre, würde viel Wissen verloren gehen, "denn leider hat er keinen Nachfolger".

Manchmal, wenn Bernhard eine Diagnose leicht von der Hand geht, etwa bei einem Mitglied des spanischen Königshauses, "eine Rheumatikerin", dann wischt er gern ein "watschneinfach" hinterher. Und selbst trägt Bernhard ohnehin auch Einlagen. Sonst hätte er wohl kaum einen bayerischen Rekord aufgestellt.

"Ich habe bis vor einem Jahr aktiv Fußball gespielt, als Ältester in Bayern." Und das mit einem neuen Knie. Der Mann wirkt ohnehin wie ein menschgewordener Müsliriegel, irgendwie unverwüstlich vital und kernig. Lebt aber auch ein Leben wie aus einem Ratgeber: jeden Tag eine Stunde Mittagschlaf, kein Alkohol, keine Zigaretten, und dann der wichtigste Energielieferant für Menschen jenseits des Rentenalters - das Gefühl, gebraucht zu werden und noch etwas besonders gut zu können. Das zeigt sich dann oben bei seinen Maschinen, zu denen Bernhard hochschlurft. Er singt dabei, wie so oft bei der Arbeit.

Auch hier alles gepflastert mit Holz, und mit lauter Holzfüßen in den Regalen, Formen für die Einlagen, die er aus Schafsleder macht, "weil viele Allergien auf Kunststoffe haben". Wenn Bernhard also seine Diagnose hat, weil etwa durch Fehlhaltungen und Fehlstellungen wie Beinlängendifferenzen, Beckenschiefstand oder verkrümmte Oberschenkelhälse Wirbelsäulen- oder Beckenbeschwerden entstanden sind. Wenn er von den Beschwerden zurückrecherchiert hat zu den möglichen Auslösern, dann sitzt er hier oben und schneidet, feilt und fräst. Bis am Ende zwei kleine Lederstücke entstehen, mit denen in den Schuhen die Auslöser nicht mehr auslösen.

"Ich habe mit dem FC Bayern lange eng zusammengearbeitet", sagt Bernhard. Nike, Adidas oder Puma wollten von seinem Wissen profitieren, es war einmal sogar ein Gesundheitsschuh patentiert und kurz davor, produziert zu werden. Bernhard wirkt nicht so, als ob ihm das unrecht gewesen wäre. Er ist schon auch stolz auf die namhaften Füße, die in seine Form getreten sind, aber ebenfalls froh, hier seine Almhüttenruhe zu haben.

Bernhard ist ums Eck geboren, hat die Tradition fortgeführt, seine Tochter arbeitet auch in der Orthopädie, er weigert sich standhaft, zum Privatpatienten-Service zu wechseln wie so viele in München derzeit. Da wäre die Einlagen-Marge deutlich größer. "Naa. Da würde ich mich schämen." So kann jeder Kassenpatient bei ihm für eine Zuzahlung von 20 Euro Ledersohlen mit der Erfahrung aus 53 Berufsjahren und der Hoffnung auf Leidenslinderung bekommen. Nur, wie lange noch?

Bernhard, der Besessene, macht einfach weiter, Schmerzen und Wehwehchen habe er keine. Er trägt ja auch Einlagen.

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Quelle:
SZ vom 15.02.2020/infu
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