Süddeutsche Zeitung

Olympia 72:Eine Oase mitten im Beton-Gebirge

Vor 50 Jahren wurde das Olympische Dorf in München als Mustersiedlung geplant. Noch heute ist es äußerst beliebt, bei Studierenden wie den Bewohnern der ersten Stunde. Was das Leben dort so besonders macht.

Von Lea Kramer

Am Anfang ist da ein asphaltierter Steg. Auf der einen Seite rote Rohre, an der anderen eine weiße Mauer. Hinten der Horizont mit blauem Himmel und davor wuchtige Terrassenbauten, die roh zu den Wolken ragen. Die unerschütterliche Wand aus Sichtbeton des Olympischen Dorfes im Münchner Norden kann erdrückend wirken. Wer näher kommt, dem eröffnet sich hier aber eine Weite - mit verwinkelten Wegen, grünen Naturorten und autofreien Verbindungen - wie sie in anderen Vierteln der Stadt selten zu finden ist. 50 Jahre gibt es den als Mustersiedlung geplanten Stadtteil schon, doch wie gut funktioniert das Dorf inmitten der Großstadt?

Vor dem Eingang ins Dorf, dieser zugigen Scharte, wie er es nennt, steht Frank Becker-Nickels. Im Sonnenlicht wirkt sein weißes, leicht schütteres Haar noch heller. Um den Hals hängt ein gestreifter Schal, auf der Nase sitzt die für seinen Berufsstand ungewöhnlich rahmenlose Brille. Seit 49 Jahren lebt der Architekt und Künstler im Olympischen Dorf.

Über die Jahre und Lebensphasen hat er verschiedene Wohntypen in der Siedlung ausgetestet - von der Zweizimmerwohnung über das Reihenhaus und zurück. "Für 95 000 Mark habe ich meine erste Wohnung am Helene-Mayer-Ring gekauft. Das war schon etwas teurer als anderswo", sagt er und zeigt in Richtung der Hochhäuser am Rand der Einkaufsstraße, die ihm heute architektonisch am meisten missfallen.

Kein sozialer Wohnungsbau, aber beliebt bei Familien

Der Zuschlag für die olympischen Sommerspiele 1972 löste in München ein regelrechtes Baufieber aus. Durch den in der Nachkriegszeit initiierten ersten Stadtentwicklungsplan konnten viele Projekte deutlich zügiger umgesetzt werden als zuvor. Für die Athleten wurde auf dem Oberwiesenfeld neben den Sport- und Trainingsstätten ein Wohnviertel - bestehend aus 22 terrassenförmig angelegten Hochhäusern, 40 Flachbauten und 800 Bungalows - geplant, das auch später als Stadtteil genutzt werden sollte. Die Deutsche Wohnbau GmbH (Deba) errichtete als Bauträger federführend mehr als 3000 frei finanzierte Wohnungen. Ein Großteil davon hatte sich die Stadt als preisgünstigen Wohnraum für Familien und Berufsanfänger gewünscht.

Die erste Ölkrise und die darauf folgende Rezession brachten die Ernüchterung. Im Oktober 1974 standen noch gut 1350 Wohnungen im Dorf leer. Zwischen 1600 und 2200 Deutsche Mark (DM) kostete der Quadratmeter. "Die Krux des Olympiadorfes sind mehr noch als die Preise die ungünstigen Zuschnitte der Wohnungen in der Terrassenanlage und natürlich die hohen Nebenkosten, bedingt durch die aufwendigen Sondereinrichtungen, wie zum Beispiel die unterirdischen Fahrstraßen", schrieb die Süddeutsche Zeitung seinerzeit. Weshalb das Neubaugebiet im Rest der Stadt spöttisch als Geisterstadt mit hoher Akademikerdichte bezeichnet wurde.

Konzipiert war das autofreie Wohngebiet für 10 000 Menschen, heute leben dort gut 5000. Hinzu kommen 1800 Studierende, die im früheren Dorf der Sportlerinnen in zwei Hochhäusern, fünf Riegelbauten und 800 Bungalows des Studentenwerks wohnen. Von seinem Balkon an der Connollystraße schaut Frank Becker-Nickels direkt auf das studentische Dorf. Vor ein paar Jahren ist der 79-Jährige in das Apartment seiner verstorbenen Mutter gezogen. Sein Reihenhaus hat er der nächsten Generation übergeben. Dort wohnt nun seine Tochter mit ihrer Familie. Ein Vogel zwitschert von einem der Nachbarbalkone herab, in den Gesang mischt sich Baulärm. Renoviert werde immer irgendwas, sagt Becker-Nickels.

"Von unten schallt es ganz schön hinauf", sagt er während er zwischen wild blühenden Blumentöpfen und allerhand Skulpturen steht. Seinen Freunden schicke er immer "ein Bild zum Tag". Zeige das die Alpen oder das Zeltdach des Olympiastadions, käme das gut an. Die denkmalgeschützten Terrassenbauten seien ein weniger beliebtes Motiv. "Dabei mag ich diesen Blick lieber, die Vorsprünge erinnern mich ans Gebirge", sagt er. "Beton wie Fels: Nackt" hat er daher eine Ausstellung genannt, in der er seine Zeichnungen des "Beton-Gebirges" noch bis Anfang Juni im Dorf zeigen wird.

Sechs Semester dürfen Studierende im Bungalow wohnen

Mit dem Malen begonnen hat auch Derya Yavuz, schließlich hat es hier Tradition, Spuren am eigenen Zuhause zu hinterlassen. Rote Backsteine sieht man an ihrem Kleinhaus. "Das Schild vom Café aus der TV-Serie Friends fehlt noch", sagt die 23-jährige Studentin. Kurz nach Beginn der Pandemie ist sie ins Bungalowdorf gezogen. Sie studiert im 8. Semester Maschinenwesen an der TU und engagiert sich im "Verein der Studenten im Olympiadorf". Es sei schwer gewesen, die Gemeinschaft während der Corona-Zeit am Leben zu erhalten. "Durch Umzüge sind viele Informationen verloren gegangen", sagt sie.

Das Olydorf erinnere sie aber eigentlich an ein Feriendorf. "Alle kennen einander, es ist immer etwas los. Du kannst irgendwo vorbeigehen und dreißig deiner Freunde sind eh schon da", sagt sie. Yavuz hofft, dass das vom Studentenverein geplante Festival zum Olympiajubiläum stattfinden kann. "Wir wollen im Bungalowdorf vom 23. bis 25. Juni eine Outdoor-Bühne aufstellen und dort Musik- und Tanzveranstaltungen abhalten", sagt sie. Dieses Draußensein schätzt sie an ihrem Wohnort. "Wenn man in München entspannen will, geht man raus. Hier ist das besonders schön, weil du gleich im Grünen bist", sagt sie. Andere Studierende mögen diese Nähe offenbar weniger "Oly-Zoo: 1054 Sichtbetongehege" hat jemand an seine Hauswand geschrieben, die direkt zum Olympiapark zeigt.

Von den üppigen Grünflächen zum nächsten Grünton ist es nie weit. Farben dienen im Olympischen Dorf der Orientierung. An den sogenannten "Media Lines", Rohre auf Stelzen mit Leuchtstoffröhren als Beleuchtung, werden Besucher durchs Geflecht der Straßen geleitet. Zur grünen Nadistraße geht es vorbei an zugewachsenen Gärten und Spielplätzen, an denen das Bobbycar schon auf die Spielenden wartet. An einem Gartenhäusl ist ein Schrein befestigt worden: Eine Madonnenfigur blickt auf den Weg, während von irgendwoher Querflötenklänge herübertönen.

Verschenkschrank und Taschenbaum - Nachbarn suchen nachhaltige Lösungen

Eine enge Gasse führt zu ein paar Stufen und plötzlich, wie am Ende des Grats, der nächste terrassierte Gipfel. Brigitte Strauß wohnt am Fuße dieses Hochhauses. In ihrem Garten trocknet sie Baumwolltaschen, am Tisch im Esszimmer sitzt Nachbarin Ramona Müller. Beide Frauen sind bei "Olytopia" aktiv, eine Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Olympische Dorf noch grüner - also umweltschonender - zu machen.

Die Taschen kommen an einen Baum in der Ladenstraße des Dorfes, von dem sich jeder eine nehmen kann, der seine vergessen hat. "Das soll einen kleinen Beitrag zur Müllvermeidung leisten", sagt Strauß, die zusätzlich über einem Nachhaltigkeits-Podcast tüftelt. Sie wohnt seit 2005 im Dorf und hat nie bereut, mit ihrer Familie dorthin gezogen zu sein. Was Umweltthemen angeht, gäbe es aber noch Luft nach oben. "Wir hatten überlegt, Solarpanels auf den Dächern zu installieren, allein wegen der Eigentümerstruktur ist das sehr kompliziert", sagt sie.

Im Dorf gibt es 17 Wohnungseigentümergemeinschaften, in denen die einzelnen Immobilienbesitzer organisiert sind. Die allgemeine Infrastruktur im Dorf gehört allen Bewohnern und muss von ihnen instand gehalten werden. Daher haben die Eigentümer eine Gesellschaft gegründet, die sich um Wartung und Pflege der Gemeinschaftsflächen kümmert. Die Kosten dafür werden auf die Bewohner umgelegt. Liegen also Spanplatten über den Fußgängerwegen, wie gerade eben, heißt das, dass wieder einmal einer der Ziegelsteine gebrochen ist und erneuert werden muss. So kann der Weg durchs Dorf für Bewohner zuweilen steinig sein, weil sie täglich erinnert werden, in was sie demnächst investieren dürfen.

Die Olympiadorf-Bewohner feiern den 50. Geburtstag ihres Stadtteils mit einer Festwoche von Freitag, 13., bis Sonntag, 22. Mai. Geplant ist am Freitag, 20. Mai, 19 Uhr, ein Nostalgieabend mit 1970er-Jahre-Modenschau, Stadtbaurätin Elisabeth Merk erklärt am Montag, 16. Mai, 19 Uhr, warum sie den Olympiapark für ein Vorzeigebeispiel nachhaltiger Stadtentwicklung hält, und Regisseur Emanuel Rotstein steht am Mittwoch, 18. Mai, nach der Vorführung seines Dokumentarfilms "Der elfte Tag" zum Olympia-Attentat (Beginn 19 Uhr) für ein Gespräch zur Verfügung. Außerdem gibt es Führungen, Diskussionsrunden, Konzerte, Ausstellungen und ein Pfadfinderlager. Am zweiten Wochenende steht im Festzelt auf der Wiese zwischen Connolly- und Nadistraße Live-Musik auf dem Programm. Veranstaltungsübersicht unter https://eig-olympiadorf.de/, Tickets für das Forum2 unter www.kultur-forum2.de.

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