Süddeutsche Zeitung

Wohnen im Olympiadorf:Betonburgen und Gemeinschaftsgefühle

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Es dauerte ein wenig, bis sich die Münchner fürs Olympiadorf begeistern konnten. Heute sind die Bewohner stolz auf ihre bunte Anlage.

Von Dominik Hutter

Man könnte eine Art Schnitzeljagd veranstalten: Wie viele verschiedene Typen von Treppen und Rampen gibt es im Olympischen Dorf? Lange Stufen, kurze Stufen, mehrfach gedrehte Wendeltreppen, gelb, rot oder grau gepflastert. Oder die Brunnen. Die Spielplätze, auf denen Kinder durch Rohre kriechen oder kleine Ziegelbauten besteigen können. Die unterschiedlichen Zuschnitte der oftmals zwei- oder dreistöckigen Wohnungen und Reihenhäuser - etwa 70 Grundrisse gibt es insgesamt. Obwohl das Ganze wie aus einem Guss wirkt. Abweisend nach außen, mit glatten Hochhausfronten zu den großen Straßen. Innen hingegen, in der mit Wällen modellierten Parklandschaft, steigen die Häuser mit ihren begrünten Balkonen terrassenförmig an. Dadurch wirkt die Anlage nicht so mächtig, wie sie eigentlich ist.

Als vor 50 Jahren die Bagger auch im nördlichen Teil des Oberwiesenfelds auffuhren, entstand dort nicht nur eine Unterkunft für die Athleten der 20. Olympischen Sommerspiele. Das "Dorf", das heute von rund 8000 Menschen bewohnt wird, war ein städtebauliches Experiment - eines, das trotz seiner Dimension und Betonlastigkeit bis heute als geglückt gelten kann. Auch wenn es anfangs ganz anders aussah. Als die Sportler abgezogen waren, standen die Wohnungen mit ihren charakteristischen Durchreichen und Wendeltreppen erst einmal weitgehend leer. In den Zeitungen war von einer Geisterstadt die Rede. Und es sah ja auch ganz anders aus als heute: der gleißend helle Beton, die noch recht kleinen Bäume und Sträucher, die unbepflanzten und daher sehr kahl wirkenden Balkonkästen. Und gähnende Leere ist ja auch kein Positivargument. Dann, so etwa 1974, 1975, sprang der Funke plötzlich auf die Münchner über. Wenige Jahre später war alles belegt.

Bei einem Spaziergang durch die fingerartig ins Grüne ragenden Wohnstraßen mit ihren verschiedenen Fußgängerebenen fallen sehr viele Details auf, die die Wohnutopien der Siebzigerjahre widerspiegeln. Die augenfälligsten sind das Prinzip "Stadt in der Stadt", das durch Ladenzentrum, Kirche, Schule und Kindergarten symbolisiert wird, sowie das Verbannen jeglichen Autoverkehrs in ein Tiefgaragenlabyrinth, durch das Ortskundige bei Regen problemlos und trocken die U-Bahn oder eben den Supermarkt erreichen können.

Wer im Olympiadorf zusammen mit den Nachbarn feiern will, findet auch außerhalb des eigenen Gartens zahlreiche geeignete Freiflächen dafür. Sie wurden in den frühen Jahren äußerst rege genutzt. Ein großer Grill, Tische und Bänke. Wer vorbeikommt, setzt sich einfach mit dazu. Und wenn ein wildfremdes Kind des Weges kam, hatte es schnell ein Würstchen und eine Semmel in der Hand.

Dass das so ablief, liegt wahrscheinlich nicht nur am Gesellschaftsbild der Siebzigerjahre. Die ersten Bewohner des Olympiadorfs waren allesamt eher jung, hatten kleine Kinder und pflegten eine Art Pionierstatus in ihren Betonburgen, in denen vom Ein-Zimmer-Appartement bis zum großzügigen Bungalow mit Innenhof alles im Sortiment war. Das verbindet. Allen gemeinsam war auch ein gewisser Stolz auf die nahe gelegenen Olympiaanlagen. Wenn Pink Floyd im Olympiastadion auftrat, war dies kein Grund zur Beschwerde, sondern Anlass, Stühle nach draußen zu stellen und "Wish You Were Here" mit einem Bier in der warmen Abendluft zu genießen.

Ganz neu waren die Wohnutopien des Olympiadorfs nicht. Wer etwa das 1952 eröffnete Le-Corbusier-Hochhaus in Marseille, die Cité Radieuse, besichtigt, kann einige konzeptionelle Parallelen entdecken: die zweigeschossigen Wohnungen, die verschiedenfarbigen Gänge, das kleine Ladenzentrum, die Gemeinschaftsflächen. Auch im Olympiadorf dienen Farben als Wegweiser - in Form der sogenannten "Media Lines", eines auf Stelzen verlaufenden Rohrsystems, das die Wege begleitet: orange für die Straßbergerstraße, grün für die Nadistraße und blau für die Connollystraße. Im zentralen Bereich am Helene-Mayer-Ring gibt es auch gelb, rot und weiß. Die Farben tauchen zudem auf den Schildern mit den Hausnummern auf. Vermutlich ist das der einzige Grund, dass Ortsunkundige nicht grundsätzlich in die Irre laufen: Die Anordnung der Hausnummern ist wegen ihrer Unübersichtlichkeit legendär.

Inzwischen ist die Bevölkerung gemischter - auch wenn auffallend viele Umzüge innerhalb des "Dorfes" stattfinden und nicht selten Ex-Bewohner wieder zurückkehren. Ein überdurchschnittliches Gemeinschaftsgefühl gibt es noch immer. Es galt ja auch, einige Kämpfe zu überstehen: Erst gegen die Chemiefabrik Bärlocher und die BMW-Lackieranlage, später ging es jahrelang darum, ob Anwohner oder Stadt die Kosten für die Sanierung der auf einer Stelzenkonstruktion verlaufenden Gehwege aufbringen müssen. Seit einigen Jahren haben sich Bewohner in der Initiative "Oly-Welt" zusammengetan, kaufen im Ladenzentrum Geschäfte auf und versuchen so den gewünschten Branchen-Mix zu gewährleisten. Diese Idee hätte wohl auch den Architekten von 1972 gefallen.

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Quelle:
SZ vom 10.08.2019
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