Neue ErkenntnisseOlympia-Attentat von 1972: Forscher widerlegen TV-Mythos

Lesezeit: 3 Min.

Der Polizeieinsatz im Olympiadorf ging zwar live im Fernsehen um die Welt, die Terroristen konnten die Bilder aber nicht sehen.
Der Polizeieinsatz im Olympiadorf ging zwar live im Fernsehen um die Welt, die Terroristen konnten die Bilder aber nicht sehen. (Foto: Klaus Rose/Imago)

Die palästinensischen Terroristen konnten den Polizeieinsatz zur Befreiung der israelischen Geiseln im Münchner Olympiadorf live am Fernseher verfolgen – so lautet eine weitverbreitete Darstellung. Warum diese nicht stimmen kann.

Von Roman Deininger und Uwe Ritzer

Es ist eine der dramatischsten Szenen in „September 5“, dem preisgekrönten Film, der das Münchner Olympia-Attentat 1972 aus der Perspektive eines amerikanischen Fernsehteams schildert. Auf den Dächern des Olympischen Dorfs gehen am Nachmittag des 5. September Polizisten mit Gewehren in Stellung, Trainingsanzüge sollen sie wenigstens auf den ersten Blick als Athleten tarnen. Die Männer bereiten sich darauf vor, das Haus Connollystraße 31 zu stürmen, in dem palästinensische Terroristen elf Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln genommen haben. Der US-Sender ABC hat eine seiner Kameras direkt auf das Geschehen gerichtet: Die Bilder von den Polizisten auf den Dächern gehen live um die Welt. Die Spiele von München sind dank neuer Satellitentechnik die ersten Fernsehspiele.

Im Film entfährt es plötzlich einem ABC-Redakteur: „Sehen das die Terroristen?“ Wenig später platzen aufgeregte Polizisten in die ABC-Sendebaracke und rufen: „Kamera aus, Kamera aus!“ Die Geiselbefreiung ist abgeblasen. Dass die Fernsehbilder die Terroristen gewarnt haben könnten und der Polizeieinsatz deshalb abgebrochen wurde: Diese These haben nicht nur die Macher von „September 5“ befördert, sondern sehr viele Historiker und Journalisten, die sich mit dem Olympia-Attentat beschäftigten. Auch Zeitzeugen haben diese Geschichte ganz selbstverständlich  immer wieder erzählt. Jetzt, 53 Jahre nach dem Anschlag, hat eine internationale Historikerkommission diese Darstellung widerlegt.

„September 5“ im Kino
:Terror, live gesendet

In „September 5“ erzählt Tim Fehlbaum das Münchner Olympia-Attentat 1972 aus der Perspektive der beteiligten Fernsehteams. Das Ergebnis: ein atemberaubendes Kammerspiel.

SZ PlusVon Roman Deininger

Die am Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) angesiedelte Recherchegruppe, die das Olympia-Attentat im Auftrag des Bundesinnenministeriums in einem dreijährigen Projekt aufarbeitet, hat neue Archivquellen erschlossen, die belegen: In dem Apartment in der Connollystraße 31, in dem die Palästinenser ihre Geiseln gefangen hielten, gab es gar keinen Fernseher. Damit, schreiben die IfZ-Historiker Adrian Hänni, Dominik Aufleger und Lutz Kreller in einem Aufsatz, könne ein „populäres Narrativ zum Olympia-Anschlag dekonstruiert“ werden.

Es habe 1972 zwar Fernsehgeräte im Olympischen Dorf gegeben, heißt es in dem Aufsatz, jedoch eher in Gemeinschaftsräumen. Die Geräte hätten jedenfalls nicht zur Standardausstattung in den Schlaf- und Wohnräumen männlicher Athleten gehört. Die Grundrisse des zuständigen Architekturbüros zeigten zudem, dass für das Gebäude in der Connollystraße 31 nicht mal TV-Anschlüsse vorgesehen waren. Das kräftigste Indiz lieferte den Historikern aber die „Tatortbefundaufnahme“ der Polizei. Auf 25 Seiten haben die Beamten damals die Gegenstände aufgelistet, die sie im Apartment der Israelis vorfanden, von Schränken und Heizkörper über  Leselampen und Rasierpinsel bis hin zu einem Apfel und einer Packung Kartoffelchips.  Weder ein Fernseher noch ein Radio stehen auf der Liste. Dazu kommt: Auch die umfassende Foto-Dokumentation des Tatorts, die von der Spurensicherung der Polizei erstellt wurde, zeigt kein TV- oder Radiogerät.

Man nehme „die Aufgabe, jedes Detail des brutalen Terrorangriffs vom September 1972 gründlich zu untersuchen, ernst“, sagt Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der  Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und Mitglied der Historikerkommission. Die Sache mit den Fernsehern zeige „exemplarisch, dass auch manche in der bisherigen Forschung und öffentlichen Meinung tradierte Annahmen revidiert werden müssen“.

Die Verpflichtung, das Olympia-Attentat mit seiner Vor- und Nachgeschichte endlich unabhängig untersuchen zu lassen, ist Bestandteil einer Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den israelischen Opferfamilien, die kurz vor dem 50. Jahrestag des Anschlags 2022 getroffen wurde. Die Kommission hat ihre Arbeit im September 2023 aufgenommen und will diese Ende 2026 abschließen. Die Ergebnisse sollen dann auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Noch 2025 soll es eine Tagung geben, die über den Fortschritt der Recherchen informiert.

Olympia-Attentat von 1972
:"Wo sind ihre Waffen, ihre Reisepässe?"

Ein internationales Forschungsteam zur Aufarbeitung des Olympia-Attentats in München 1972 hat seine Arbeit aufgenommen. Viele Fragen sind ungeklärt, einige Asservate nicht aufzufinden. Die Suche beginnt.

SZ PlusVon Joachim Mölter

Und wie konnte die Legende von den fernsehenden Terroristen, die sich noch am Tag des Anschlags verbreitete, überhaupt entstehen? Die Historiker mutmaßen, dass das nicht zuletzt mit der „Gleichzeitigkeit“ zweier Ereignisse am 5. September 1972 zu tun hat: Sowohl der Abbruch des Sturmangriffs der Polizei als auch die ultimative Forderung der Behörden, die ABC-Liveübertragung zu unterbrechen, fallen in die Zeit zwischen 17.15 und 17.30 Uhr.

Auch einen plausiblen anderen Grund für den unvermittelten Abzug der Polizisten von den Dächern haben die Historiker identifiziert. Demnach waren Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, Bayerns Innenminister Bruno Merk sowie Polizeipräsident Manfred Schreiber auf dem Weg zur Connollystraße 31, um vor dem Apartment mit den Terroristen zu verhandeln. Laut Funkverkehr  („Minister und Polizeipräsident gefährdet“) fürchtete die Polizei, dass die Geiselnehmer während der Verhandlungen die Polizisten auf den Dächern entdecken könnten.

Für eine gute Koordinierung unter den Einsatzkräften spricht auch diese Erklärung nicht. Der „Fernseher-Mythos“, schreiben die Historiker Hänni, Aufleger und Kreller, sei zu einem „Symbol für den Dilettantismus von Polizei und Krisenstab während des Olympia-Anschlags“ geworden. „Obwohl faktisch falsch, transportiert er damit in einem gewissen Sinn eine höhere Wahrheit.“ Der Polizeieinsatz sei ja tatsächlich von „zahlreichen fatalen Fehlern und Mängeln“ geprägt gewesen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Olympia-Attentat in München 1972
:Der zwölfte Mann

Beim Olympia-Attentat 1972 starben in München elf Israelis – und der deutsche Polizist Anton Fliegerbauer. Ein halbes Jahrhundert lang hat seine Familie nicht öffentlich darüber gesprochen. Jetzt redet sein Sohn, und das aus gutem Grund.

SZ PlusVon Roman Deininger, Uwe Ritzer (Text) und Leonhard Simon (Fotos)

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: