SZ-Serie: Olympisches Erbe:Wer bei Olympia protestiert, fliegt raus

Lesezeit: 5 Min.

Barfuß und das Hemd aus der Hose: Die US-Amerikaner Wayne Collett (links) und Vince Matthews sorgen mit ihrem Verhalten bei der Siegerehrung der 400-Meter-Läufer für einen Eklat. (Foto: Horstmüller/Imago)

Die Läufer Wayne Collett und Vince Matthews prangern 1972 mit ihrer Teilnahmslosigkeit bei der Siegerehrung Rassismus in den USA an - und dürfen nie wieder bei Olympia antreten.

Von David Pister

Siegerehrung über 400 Meter der Männer. Der Kenianer Julius Sang steht aufrecht auf dem Treppchen, seine Bronzemedaille hängt über der Trainingsjacke. Still blickt er in Richtung der gehissten Flaggen, andächtig lauscht er der Nationalhymne "The Star-Spangled Banner", die für die beiden erst- und zweitplatzierten US-Amerikaner gespielt wird. Doch die scheint das gar nicht zu interessieren, sie plaudern derweil miteinander.

Vincent Matthews, der Goldmedaillengewinner, schaut umher und zupft sich mit einer Hand am Kinnbart; die andere ruht lässig auf der Hüfte über der geöffneten Trainingsjacke. Wayne Collett, der Zweitplatzierte, hat sich auf die oberste Stufe des Siegerpodests dazugestellt - barfuß und in kurzen Hosen. Später erklärt Collett sein Benehmen als Protest gegen die Behandlung der schwarzen Bevölkerung in seinem Land: "Es läuft vieles falsch und ich glaube, das weiße Establishment hat einfach eine zu sorglose Einstellung gegenüber Amerikas Schwarzen. Es interessiert sich nicht für uns - außer, wenn wir sie ein wenig blamieren."

Ein politischer Protest also, allerdings nicht so spektakulär wie der von Tommie Smith und John Carlos bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt. Die Amerikaner reckten damals bei der 200-Meter-Siegerehrung ihre Fäuste in die Höhe und senkten ihren Blick - die Bilder wurden weltweit zum Symbol der Black-Power-Bewegung. Matthews und Collett wirken in München dagegen wenig kämpferisch, eher desillusioniert. Beim Verlassen des Stadions reckt Collett noch kurz die Faust in die Höhe - und erntet prompt Pfiffe und Buhrufe des Publikums.

16. Oktober 1968: Tommie Smith (Mitte) bei der Siegerehrung. (Foto: AP)

Entgegen der Einschätzung eines Sprechers des US-Teams, die Aktion vom 7. September sei "keine große Sache, die Folgen haben müsste", traf es Matthews und Collett hart: Das Internationale Olympische Komitee (IOC) sperrte sie "wegen ungebührlichen Verhaltens bei der Siegerehrung" für alle weiteren Wettbewerbe in München und forderte eine Entschuldigung. Matthews und Collett lehnten ab - sie durften nie wieder bei Olympia mitmachen.

"Als eine umfassende Bewegung wurden die Olympischen Spiele schon immer als Plattform für politische Botschaften genutzt. Durch die Popularität und die mediale Verbreitung wird eine größtmögliche Aufmerksamkeit erreicht", sagt Stephan Wassong, Professor am Institut für Sportgeschichte an der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS). Die Protestkundgebungen seien immer in den Rahmen des politischen Zeitgeschehens eingebettet.

"Die frühen Proteste wurden vom IOC bis 1960 nicht sanktioniert. In den 1960er-Jahren hat sich die internationale Situation stark verändert. Beim IOC wurde vielleicht die Notwendigkeit gesehen, vor dem Hintergrund der internationalen Spannungen, die Olympischen Spiele rigoros vor politischer Propaganda zu schützen", glaubt Wassong. Sportler wie Smith und Carlos, Matthews und Collett machten auf die prekäre Situation der schwarzen Bevölkerung in den USA aufmerksam. Dabei ist jegliche "politische, religiöse oder rassistische Demonstration oder Propaganda" bei den Spielen untersagt. So steht es in Regel 50 der Olympischen Charta.

Bei Cathy Freeman traut sich das IOC nicht

Sportlerinnen und Sportler hat das allerdings nicht davon abgehalten, die Spiele für ihre politischen Botschaften zu nutzen. So stieg der australische Boxer Damien Hooper 2012 in London mit einem T-Shirt in den Ring, auf dem die Flagge der Aborigines zu sehen war, der Ureinwohner des Kontinents. "Ich repräsentiere meine Kultur, nicht nur mein Land", sagte der Boxer mit indigenen Vorfahren. Hooper wurde vom IOC verwarnt und entschuldigte sich offiziell, nachdem ihm die Disqualifikation angedroht wurde.

Anders erging es Cathy Freeman zwölf Jahre zuvor in Sydney. Sie gewann damals über 400 Meter und griff sich bei der Ehrenrunde neben der australischen Flagge zusätzlich die der Aborigines. Auch sie stammt von den Ureinwohnern ab, aber sie war damals deren Symbolfigur und überhaupt das Gesicht jener Spiele. Eine Strafe stand nicht zur Debatte. "Die Sanktionierung von Protesten ist eine Einzelfall-Entscheidung. Da wird diskutiert und dann wird die Verhältnismäßigkeit abgewogen", so Wassong. Im Fall der global bekannten Freeman hätte eine Bestrafung dem IOC wohl negative Schlagzeilen beschert.

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Das IOC begründet sein Protestverbot damit, dass Olympische Spiele unpolitisch seien. So sieht es auch Wassong, der an der DSHS auch am Zentrum für Olympische Studien forscht: "Die Olympischen Spiele bieten für eine gewissen Zeit die Möglichkeit, dass trotz politischer Eiszeiten und Kriegen eine Zusammenführung von Repräsentanten unterschiedlicher Nationen gelingen kann. Und auch gelingt." Benjamin Bendrich sieht das anders, er forscht international zu Athletenrechten und sagt: "Man sollte die Regel 50 abschaffen." Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Das Protestverbot stehe im Widerspruch zu Artikel 19 der UN-Menschenrechtserklärung, das Recht auf freie Meinungsäußerung, argumentieren die Kritiker.

Zwischenzeitlich lassen die Athleten das Protestieren - und mehren ihren Reichtum

"In den Achtzigern und Neunzigern stand die Kommerzialisierung des Sports im Vordergrund. Die Sportler hatten vermutlich mehr Interesse daran, ihren Reichtum zu sichern, und es gab weniger Proteste", glaubt Bendrich. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien sei wieder ein Anstieg der politischen Demonstrationen zu erkennen. "Nicht nur die Quantität hat zugenommen", sagt Bendrich. "Schwarze Athleten erhalten mittlerweile Unterstützung von Athleten, die selbst gar nicht von den Problemen betroffen sind. Es ist neu, dass sich alle Athleten solidarisieren. Das macht die neue Bewegung so stark."

Entscheidend sei, dass die Proteste mit grundlegenden Menschenrechte vereinbar seien: "Wenn keine anderen Menschen beleidigt oder verletzt werden, sollte Protest jeglicher Art erlaubt sein - und ist meiner Meinung nach auch sinnvoll, um gesellschaftliche Veränderungen anzuschieben." Durch die Verbreitung der Proteste über soziale Medien hat das IOC weniger Kontrolle. "Dem IOC ist bewusst, dass die Öffentlichkeit bewusster auf die Problematik schaut und sich nicht mehr so leicht abspeisen lässt. Deswegen agieren sie vorsichtiger und wägen ab", so Bendrich. Er meint, das IOC habe seine Haltung gemäßigt.

Im Juli 2021, vor den Spielen in Tokio, wurde die Regel 50 der Charta angepasst. Nachdem Athletinnen und Athleten die Regel kritisiert hatten, sind politische Proteste zumindest eingeschränkt möglich. Unter Beteiligung des ehemaligen Sprinters Carlos, der in Mexiko-Stadt die Faust erhob, drängte die Athletenvertretung des olympischen und paralympischen Komitees der USA darauf, das Protestverbot vollständig aufzuheben. In Absprache mit der Athletenkommission des IOC wurde der Kompromiss gefunden, dass Meinungsäußerungen verboten bleiben bei offiziellen Zeremonien wie Siegerehrungen oder Eröffnungs- und Schlussfeier, auf dem Spielfeld und im Olympischen Dorf. Sportlerinnen und Sportler dürfen sich aber bei Teambesprechungen, Pressekonferenzen und vor den Wettkämpfen politisch äußern.

"Die Regel wurde nur leicht verändert. Für mich ist das Augenwischerei", so Bendrich. Auch der unabhängige Verein Athleten Deutschland moniert, dass das Protestverbot in bestimmten Fällen beibehalten wird. Wassong hingegen steht hinter der Neuregelung: "Stark polarisierende und politisierende Protestkundgebungen, die während der Wettkämpfe durchgeführt werden, können Athleten ablenken und dadurch zu einer Verzerrung der Leistung führen, auf deren optimale Durchführung jahrelang hingearbeitet worden ist." Außerdem befürchtet der Sporthistoriker, politische Äußerungen zum Beispiel während der Eröffnungsfeier würden diese "direkt zum Nährboden von politischen Konflikten machen".

Mittlerweile bei Olympia erlaubt: Amerikanische Fußballerinnen gehen bei den Spielen 2021 in Tokio in die Knie, um gegen Rassismus zu demonstrieren. (Foto: Masatoshi Okauchi/Shutterstock/Imago)

In Tokio haben die Fußballerinnen bereits von der Regeländerung Gebrauch gemacht. Die Teams von Großbritannien, Chile, Schweden und den USA protestierten vor dem Anpfiff mit einem Kniefall gegen Rassismus, die australischen Spielerinnen zeigten die Flagge der Aborigines, dank Lockerung der Regel straffrei. Nike Lorenz, die Kapitänin des deutschen Hockey-Teams, durfte ihre Regenbogenbinde tragen, allerdings erst nachdem der Deutsche Olympische Sportbund und der Deutsche Hockey-Bund einen gemeinsamen Antrag an das IOC gestellt hatten.

Die amerikanische Kugelstoßerin Raven Saunders kreuzte bei der Siegerehrung ihre Arme über dem Kopf, um damit ihre Solidarität mit unterdrückten Menschen auszudrücken. Eine politische Geste, die auf dem Podest laut Regel 50 weiterhin verboten ist. "Sollen sie doch versuchen, diese Medaille zu nehmen", twitterte die Silbermedaillengewinnerin, nachdem das IOC die Untersuchungen aufnahm. Letztlich sah es von einer Strafe ab.

"Mittlerweile weiß jeder, dass sich Sport und Politik immer vermischen. Aber das IOC will immer nur dann politisch sein, wenn es in die eigene Agenda passt", sagt Bendrich. Das IOC habe zum Beispiel 2018 das gemeinsame Eishockeyteam der Frauen aus Nord-und Südkorea unterstützt. Auch die Vergabe der Spiele in Staaten, die nicht für die Einhaltung von Menschenrechten bekannt sind und Olympia nur zu Werbezwecken nutzen, zeugt nicht von einer Trennung von Sport und Politik.

Dass eine uigurische Sportlerin bei den Winterspielen 2022 in Peking das olympische Feuer entzündete, während Uiguren in Internierungslager gesperrt werden, versteht nicht nur Bendrich als Inszenierung: "Das sind alles politische Aktionen. Kommt es aber zu Protesten von Athleten, beruft sich das IOC wieder darauf, apolitisch zu sein. Das ist problematisch, weil es nicht möglich ist, beides gleichzeitig zu sein."

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