Süddeutsche Zeitung

Olympia 72:Gustav Heinemann - das politische Gesicht der Spiele

Eine Brücke vom Alten zum Neuen: Mit maximaler Seriosität, Würde und Bodenständigkeit repräsentiert Bundespräsident Gustav Heinemann in München das neue Deutschland.

Von Roman Deininger und Uwe Ritzer

Wenn es darum ging, einem Moment ein übertriebenes Maß an Pathos zu nehmen, dann war Gustav Heinemann genau der richtige Mann. Am 26. August um 16.15 Uhr erhob sich der Bundespräsident von seinem Platz in der Ehrenloge des Münchner Olympiastadions. Er richtete kurz das Doppelmikrofon, dann sprach er die Eröffnungsformel, sehr ernst, aber überhaupt nicht ergriffen: "Ich erkläre die Olympischen Spiele München 1972 zur Feier der 20. Olympiade der Neuzeit für er...", eine Sekunde Innehalten, rechte Hand nach oben, "...öffnet."

Es sei natürlich nur ein kleiner Satz gewesen, hat Hans-Jochen Vogel, Sozialdemokrat wie Heinemann, später gesagt, aber "ein Satz, der auf der ganzen Welt gehört wurde". Heinemann habe sich "symbolisch absetzen" wollen von der Eröffnungsfeier in Berlin 1936: "Er ließ sich nicht wie Hitler im Stadion feiern und stellte sich nicht in den Mittelpunkt."

Natürlich spiegelte sich in den "heiteren Spielen", von denen die Organisatoren träumten, der gesellschaftliche Aufbruch der Ära Brandt. Doch mehr noch als der Bundeskanzler wurde Gustav Heinemann zum politischen Gesicht der Münchner Spiele. Wenn der Sonnenbrillenträger Brandt das Neue verkörperte, dann war Hornbrillen-Fan Heinemann für viele Deutsche eine Brücke vom Alten zum Neuen. Wem der Kanzler zu viel Dynamik verbreitete, der fand die Besonnenheit und maximale Seriosität des 14 Jahre älteren Bundespräsidenten beruhigend.

"München! Herrliche Stadt!", schreibt Heinemann schon 1920 in sein Tagebuch

Heinemann, 1899 als Sohn Essener Großbürger geboren, hatte als junger Mann so etwas wie den Sommer seines Lebens in München verbracht. Als Student streifte er 1920 durch die Pinakotheken, sah Shakespeare im Theater und hörte an der Uni - kurz vor dessen Tod - Vorlesungen von Max Weber. "München! Herrliche Stadt!", schrieb er in sein Tagebuch; die Bedeutung der Ausrufezeichen kann man bei Heinemann gar nicht überschätzen.

Am 19. Mai 1920 besuchte er im Hofbräuhaus eine Kundgebung der NSDAP, Redner war der 31 Jahre alte Kriegsheimkehrer Adolf Hitler. "Ein trauriges Bild der Geistesverfassung und politischen Unbildung unseres Volkes", notierte Heinemann. Nach allem, was man weiß, wurde er wegen seiner Zwischenrufe aus dem Saal geworfen. Heinemann mag spröde gewesen sein, urteilt sein Biograf Thomas Flemming, doch eben auch ein Mann von "stiller Leidenschaft", wenn es um die deutsche Demokratie ging. Für das Vorhaben der Organisatoren, bei Olympia 1972 der Welt das neue, geläuterte Deutschland zu präsentieren, hatte er deshalb besondere Sympathie.

In der Nazizeit ließ der evangelische Christ Heinemann in seinem Keller die "Grünen Blätter" vervielfältigen, eine regimekritische Kirchenzeitung. Als Adenauers Innenminister trat er aus Prinzip zurück, er hielt die Wiederaufrüstung für falsch; er verließ die CDU und schloss sich der SPD an. In der Großen Koalition wurde er Justizminister und entstaubte das deutsche Recht: Gotteslästerung, Ehebruch und homosexuelle Beziehungen waren nun keine Straftatbestände mehr.

Seine Wahl zum Bundespräsidenten ist schon "ein Stück Machtwechsel", findet er

Im März 1969 wurde Heinemann dann mit den Stimmen von SPD und FDP zum Bundespräsidenten gewählt, es war "ein Stück Machtwechsel", wie er selbst fand, die Vorwegnahme von Brandts Wahlsieg im Herbst. Und noch etwas nahm Heinemann zumindest ein bisschen vorweg, einen Zentralsatz bundesdeutscher Geschichte. "Nicht weniger, sondern mehr Demokratie", sagte er in seiner Antrittsrede, "das ist die große Forderung, das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben."

Heinemann verstand sich als "Bürgerpräsident", er wollte nah bei den ganz normalen Leuten sein. Seine Bodenständigkeit demonstrierte er sogar, als er zu Beginn der Spiele in die Münchner Residenz zum Olympia-Empfang lud. Wo tags darauf bei der Gala des bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel langes Abendkleid, Smoking oder Uniform vorgeschrieben waren, begnügte sich Heinemann ausdrücklich mit Anzug, kurzem Kleid oder Tracht. Statt Hummer und Kalbsfilet an einer Festtafel bekamen seine Gäste - darunter Fürst Rainier und Gracia Patricia von Monaco - deftige bayerische Kost auf die Hand. Einen Namen ließ er persönlich von der Einladungsliste streichen: Leni Riefenstahl, Hitlers Olympia-Regisseurin von 1936, nun als Fotografin akkreditiert.

Viel lieber als mit gekrönten Häuptern suchte Heinemann in München den Kontakt mit Helferinnen und Helfern und Athletinnen und Athleten ("Ich muss ja sagen, die Mädchen am Doppelreck - wie die Spinnen"). Ihn nervte lediglich, dass er bei seinen zahlreichen Exkursionen ins Olympische Dorf stets von einer großen Fotografenschar begleitet wurde: "Ich werde bald verrückt, wenn das so weitergeht." Besonders war ihm an internationalen Begegnungen gelegen. "Ausländer mal ran", rief er im olympischen Jugendlager: "Sind hier im Raum Damen und Herren aus einem Ostblockland?" Die Damen und Herren wollten aber sicherheitshalber lieber nichts sagen, genau wie die DDR-Sportler, bei denen sich der Bundespräsident erkundigte, ob denn das Essen schmecke. Die Ostdeutschen taten einfach so, als würden sie Heinemann nicht hören.

Am 6. September sprach der Bundespräsident noch einmal zur ganzen Welt, eine Möglichkeit, auf die er liebend gern verzichtet hätte. Es war der Vormittag nach dem Olympia-Attentat. Elf Juden waren auf deutschem Boden ermordet worden, und auf Heinemann allein lastete die Verantwortung, die Bundesrepublik in dunkelster Stunde zu vertreten. "Fassungslos stehen wir vor einem wahrhaft ruchlosen Verbrechen", sagte er: "In tiefer Trauer verneigen wir uns vor den Opfern des Anschlags." Es war eine würdige, glaubhafte Rede, für die sich später 400 Bürger brieflich bei ihm bedankten. Auch die israelische Regierung war zufrieden, weil er die arabischen Staaten zumindest indirekt in die Pflicht nahm, Terror zu verhindern.

Als Gustav Heinemann zwei Jahre nach Olympia aus dem Amt schied, verzichtete er auf einen Großen Zapfenstreich, auf Fackeln und stillstehende Soldaten. Er feierte lieber zwanglos auf einem Rheindampfer.

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