SZ-Serie: Olympisches Erbe:Eine Sprache aus Strichen, Dreiecken und Kreisen

Lesezeit: 4 Min.

Alles klar: Dank Otl Aichers Reduzierung aufs Wesentliche wissen 1972 alle Olympia-Fans, welche Beschilderung zu welchem Sport weist. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die seinerzeit als "Minimalschrift für Analphabeten des hektischen Zeitalters" verspotteten Piktogramme von Otl Aicher inspirieren bis heute zahlreiche Weiterentwicklungen.

Von Dirk Wagner

Auf einem Freilichtgemälde im Studentendorf am Olympiapark sind noch immer verschiedene Piktogramme des Ulmer Gestalters und Grafikdesigners Otl Aicher zu sehen, die dieser für die Olympischen Spiele 1972 in München entworfen hat - und die weit über deren Schlussfeier am 11. September 1972 hinaus prägend gewesen sind. Vereinfachte grafische Darstellungen skizzieren dabei mit wenigen Strichen und Punkten körperliche Bewegungen, die für verschiedene olympische Sportarten stehen. Aicher, dem nachgesagt wurde, dass er zeichnen konnte, ohne selbst aufs Zeichenblatt blicken zu müssen, hatte dafür eine ikonische Darstellung weiterentwickelt, wie sie der japanische Grafiker Katsumi Masaru noch deutlich figurativer für die Olympischen Spiele 1964 in Tokio zur Kennzeichnung von Sportarten entworfen hatte.

Sowohl Otl Aicher als auch sein Vorgänger Katsumi Masaru griffen dabei auf eine Technik zurück, die der Grafiker Gerd Arntz gemeinsam mit dem österreichischen Ökonomen und Sozialphilosophen Otto Neurath bereits 1936 entwickelt hatte, als sogenannte Isotype. Der Begriff ist die Abkürzung für "International System of Typographic Picture Education". Mit solchem "internationalen System der typografischen Bilderziehung" wollten schon Neurath und Arntz ein Visualisierungssystem schaffen, mit dem komplexe Zusammenhänge auf einfache Weise durch Piktogramme international verständlich dargestellt werden können. Mehr als 4000 Piktogramme soll der Düsseldorfer Arntz geschaffen haben. Dabei nutzte er diese auch als Stilmittel für seine politische Kunst, in der er unter anderem Adolf Hitler samt Schnauzbart und ausgestrecktem Arm als Piktogramm zu skizzieren wusste. Ansonsten war das Ansinnen des Soziologen Neuraths, die international verständlichen Piktogramme als anschauliche Darstellungsmöglichkeit in seiner Wissenschaft verwenden zu können.

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Als ein Weltkrieg später zum zweiten Mal nach 1936 in Deutschland die Olympischen Spiele ausgerichtet wurden, bemühte sich Otl Aicher mit seinen weiterentwickelten Piktogrammen außer um internationale Verständlichkeit noch um eine weitere Botschaft, wie Cornelia Ziegler es in ihrem im Volk Verlag München erschienenem Buch "Olympia 72. 19 Superlative. 72 Geheimnisse" als 36. Geheimnis verkündet: "Denn man wollte 1972 der Welt zeigen, dass man sich ihr anpasst und sie nicht beherrscht, z. B. mit einer Sprache." Entsprechend kam nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Idee für eine völkerbindende Weltsprache auf, Esperanto, das als Plansprache im Gegensatz zu natürlich gewachsenen Sprachen Wörter baukastengleich aus verschiedenen internationalen Bestandteilen zusammensetzt. Außerhalb der weltweit gestreuten Esperanto-Gruppen hat sich eine solche künstliche Sprache allerdings nicht behaupten können.

Der Mann hinter den Piktogrammen: Grafikdesigner Otl Aicher. (Foto: Sven Simon/Imago)

Die grafische Visualisierung der Esperanto-Idee durch Otl Aicher bewährte sich indes global. Denn Aicher erfand für die Olympischen Spiele 1972 in München nicht nur Piktogramme, die wie zuvor schon 1964 in Japan und 1968 in Mexiko die einzelnen Sportarten auf Eintrittskarten, Wegweisern und Fesselballons markierten, die in München über die jeweiligen Wettkampfstätten zur weiteren Orientierung schwebten. Aicher nutzte die Piktogramme auch, um ein internationales und darum auch nicht-deutschsprachiges Publikum aufzuklären, wo es zur U-Bahn geht oder zu den Toiletten. Während letztere zuvor namentlich mit einem entsprechenden Schriftzug in Herren- und Damen-Toiletten unterteilt wurden, skizzierten nun erstmals Striche, Dreiecke und Kreise auf den jeweiligen Toilettentüren ikonische Figuren, die als Mann und als Frau gelesen werden können.

Solches Geschick, Menschen auch ohne Sprachkenntnisse mit leicht verständlichen Bildern zu informieren, die einem einfachen Raster aus Orthogonalen und Diagonalen folgen, wurde alsbald auch für Wegweiser in Flughäfen verwendet. Mittlerweile trifft man sie auch andernorts an. In Bahnhöfen oder Gaststätten signalisieren durchgestrichene als qualmende Zigaretten gelesene Zeichen ein Rauchverbot. Strichmännchen, die aus einem Rechteck zu steigen scheinen, kennzeichnen Notausgänge. Kleine geometrische auf Textilien gedruckte Figuren informieren darüber, wie der Stoff zu waschen sei und ob er für die anschließende Verwendung eines Trockners geeignet ist. Im Straßenverkehr sind Piktogramme mittlerweile ebenso nützlich wie auf der internationalen Datenautobahn des Worldwide Web. Zahlreiche sogenannte Emojis unterstreichen in E-Mails und sozialen Foren des Internets, ob eine Nachricht zum Beispiel als Scherz gedacht ist.

Wegweiser zum Notausgang: Auch solche Kennzeichnungen lassen sich auf Otl Aicher zurückführen. (Foto: Florian Peljak)

Am Anfang nutzte man dafür einfache Zeichenfolgen auf der Tastatur wie einen Doppelpunkt, einen Bindestrich und einen die Klammer schließenden Halbkreis, um daraus sogenannte Emoticons zu kreieren, die in diesem Fall einem lächelnden Gesicht ähneln. Damit kommentierte man Textpassagen oder gab überhaupt ein persönliches Befinden preis. Mittlerweile stehen den Nutzern der Telekommunikation dafür eigens entwickelte kleine Bildchen zur Verfügung, die zum Beispiel ein lachendes oder weinendes Gesicht zeigen. Wobei streng genommen 1972 niemand jene hier angesprochenen gelben Kreise als Gesichter gelesen hätte: Erst das Wissen um den in der Disko-Mode der Siebziger- und Achtzigerjahre etablierten gelben Smiley macht die daraus entwickelten Emojis später verständlich. Damit wird deutlich, dass auch das Lesen von Piktogrammen gelernt werden muss. Dabei hatte man Aichers Piktogramme Anfang der Siebzigerjahre noch als "Minimalschrift für Analphabeten des hektischen Zeitalters" beschimpft.

Überhaupt stieß das von Aicher geprägte Erscheinungsbild der Olympischen Spiele in München seinerzeit nicht nur auf Zustimmung. In Aichers Logo für die Olympischen Spiele, dem Strahlenkranz also auf hellblauem Hintergrund, wollte der damalige bayrisch-christsoziale Staatsbank-Präsident Rudolf Eberhard nur einen gewöhnlichen Hosenknopf erkannt haben. Angestachelt von einem Wettbewerb, den die Bild-Zeitung daraufhin ausrief, offenbarten zahlreiche Münchner, Bayern und Deutsche, wie sie sich stattdessen ein würdiges Logo für die Olympischen Spiele vorgestellt hatten: Da durften dann auch schon mal die olympischen Ringe zwischen den Türmen der Frauenkirche hängen. Oder Bierkrüge wurden raffiniert in Form der olympischen Ringe aufgestellt.

Erinnert der Strahlenkranz tatsächlich an einen gewöhnlichen Hosenknopf? (Foto: Alessandra Schellnegger)

Stattdessen blieb es aber beim Design des Mannes, der bewusst auf jegliche nationalen Farben und Symbole verzichtete und so mit seinen hellblauen und orangenen Färbungen der Welt ein demokratisches und zukunftsorientiertes Deutschland präsentierte. Ein Deutschland also, das der einstige Freund der Geschwister Scholl und spätere Ehemann von Inge Scholl bewusst dem Nazi-Verbrechen des Dritten Reichs entgegensetzte.

Wie zukunftsorientiert allein schon die Piktogramme des als "father of the geometric man" gefeierten Künstlers waren, belegen ihre zahlreichen Weiterentwicklungen. So bietet zum Beispiel die in Bayern gegründete bundesweite Initiative "Barrierefrei Feiern" Veranstaltern und Clubbetreibern eigens dafür entwickelte Icons an, mit denen sie kenntlich machen können, welche Barrieren für Menschen mit Behinderungen auf ihren Veranstaltungen und in ihren Räumen gegeben sind, und welche Maßnahmen sie zur Überwindung solcher Barrieren zugunsten einer vielfältigen Gesellschaft anbieten.

Eine Weiterentwicklung der olympischen Piktogramme: die Icons der Initiative Barrierefrei feiern. (Foto: ibf)

Gefördert vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur untersuchte zudem ein Forschungsprojekt der Bergischen Universität Wuppertal von 2016 bis 2020 die Wirkung von Piktogrammen und Hinweisschildern auf das Fahrverhalten und die Verkehrssicherheit beim Radfahren bei beengten Verhältnissen. Die Untersuchung zeigte, dass auf die Straße gemalte Piktogrammketten eine Maßnahme sind, um die Akzeptanz des Mischverkehrs auf den so markierten Hauptverkehrsstraßen zu erhöhen, Seitenraumnutzungen zu reduzieren und Routen im Radverkehr zu verdeutlichen. Fahrradpiktogramme, die das Sinnbild "Radverkehr" gemäß der Straßenverkehrsordnung nutzen, wurden dafür in regelmäßigen Abständen auf die Fahrbahn gemalt, ergänzt um richtungsweisende Pfeilelemente. Angeblich konnten so im Mischverkehr die Präsenz und die Rechte von Radfahrern verdeutlicht werden. Allerdings, so mahnt die Forschung auch, wäre so eine Wirkung nur gegeben, wenn die verwendeten Piktogramme nicht überall zur Anwendung kämen. Das allerdings dürfte auch für alle anderen inflationär genutzten Zeichen in einer vom Schilderwald überwucherten Welt zutreffen.

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