Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Olympisches Erbe:Ein Amateur wie Uli Hoeneß

Nicht nur der Fußballer des FC Bayern und die staatlich alimentierten Sportler aus dem Ostblock unterlaufen 1972 die strengen Regeln des IOC. Erst ein Jahrzehnt werden die Olympischen Spiele für Profis geöffnet.

Von Hans Kratzer

Mark Spitz, Heide Rosendahl, Klaus Wolfermann - wer diese Sportlernamen hört, denkt sofort an die Olympischen Spiele in München. Die meisten Athleten von damals sind aber in Vergessenheit geraten oder werden nicht zwingend mit München 1972 in Verbindung gebracht. Zum Beispiel Uli Hoeneß. Dass der frühere Präsident des FC Bayern als junger Fußballer bei Olympia teilnahm, wissen nur noch wenige.

Filmaufnahmen belegen indes, dass Hoeneß am 8. September 1972 im Münchner Olympiastadion kaum zu bremsen war. Vor 80 000 Zuschauern erzielte er mit einem spektakulären Scherenschlag sogar das "Tor des Monats". Trotzdem verlor die bundesdeutsche Olympia-Auswahl an jenem Freitag gegen die Mannschaft der DDR 2:3 und schied aus dem Turnier aus.

Als der Journalist Eberhard Stanjek dieses Spiel Jahre später im Fernsehen des Bayerischen Rundfunks kommentierte, merkte er an, die Auseinandersetzung sei angeblich nicht ganz gerecht gewesen, denn die DDR sei mit ihren besten Spielern angetreten. So verfuhren in jener Zeit freilich alle Mannschaften aus dem Ostblock. Profis, sagte Stanjek, "gab es ja im damaligen Sozialismus nicht, die bundesdeutsche Auswahl war dagegen eine Amateurmannschaft". Mit Recht stellte Stanjek beide Aussagen in Frage.

Natürlich waren die sogenannten Staatsamateure aus dem Osten im Grunde allesamt Profisportler. Dass die bundesdeutsche Auswahl aus lauter Amateuren bestanden haben soll, stimmte aber auch nur formal auf dem Papier. Der 20 Jahre alte Uli Hoeneß gehörte 1972 dem Kader des FC Bayern an, mit dem war er gerade erst deutscher Meister geworden und mit der bundesdeutschen Auswahl sogar noch Europameister.

Selbst ein Olympia-Amateur wie Uli Hoeneß bekommt Riesensummen - natürlich heimlich

Damit er bei den Olympischen Spielen antreten konnte, durfte er vorher bloß keinen Profivertrag unterschreiben. Gerne wird Franz Beckenbauers Aussage kolportiert, Hoeneß sei beim FC Bayern offiziell als Gärtner angestellt gewesen. Im ZDF-Sportstudio fragte damals Dieter Kürten nach, ob das stimme. Hoeneß wies eine Gärtnertätigkeit von sich und sagte, er sei ein ganz normaler Angestellter gewesen. Einen gut dotierten Profivertrag habe er erst nach Olympia unterschrieben.

Dass damals auch Amateurspieler nicht schlecht lebten, legt der Historiker Hans Woller in seiner Biografie über Gerd Müller offen. Der FC Bayern absolvierte in den frühen 70er-Jahren viele Freundschaftsspiele im In- und Ausland. Manager Robert Schwan kassierte die Gagen in bar, verbuchte sie aber nicht. Der Großteil dieser verdeckten Einnahmen ging laut Woller direkt an die Spieler. Meistens zahlte Schwan das Geld bereits im Flugzeug aus. Mit dicken Bündeln seien sie zurückgekehrt, bekannte Franz Beckenbauer später. Der DFB durfte davon nichts wissen. Selbst Olympia-Amateure wie Uli Hoeneß und Edgar Schneider, die vom Verein nichts hätten bekommen dürfen, erhielten auf diese Weise Riesensummen, wie der damalige FC-Bayern-Präsident Wilhelm Neudecker in seinen Memoiren schrieb.

In der Regel waren westliche Spitzensportler 1972 noch berufstätig. Laut Reglement durften nur Amateure bei Olympia starten, also solche Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch Sport bestritten. Der erste Olympiasieger von München, der schwedische Sportschütze Ragnar Skanåker, betrieb zum Beispiel eine Tankstelle. Und der Franzose Michel Carrega, Silbermedaillengewinner im Trapschießen, führte nach seinem Erfolg in München sein Leben als Korallenfischer auf Korsika fort. Ungeachtet dessen wurde der olympische Amateurgedanke schon 1972 fintenreich umgangen, auch abseits des Fußballs.

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) wachte seit den ersten modernen Olympischen Spielen im Jahr 1896 streng über den Amateurstatus. Selbst kleine Verfehlungen wurden rigoros geahndet. Der Kölner Sporthistoriker Stephan Wassong erinnert an den Amerikaner Jim Thorpe, der 1912 in Stockholm im Fünf- und im Zehnkampf gewann. "Ihm wurden aber seine Goldmedaillen aberkannt, weil herauskam, dass er semiprofessionell Baseball gespielt hat", sagt Wassong. Thorpe hatte nur ein paar Dollar dafür bekommen. Der Bannstrahl traf auch den finnischen Wunderläufer Paavo Nurmi, der 1930 geringe Spesengelder angenommen hatte. 1932 wurde er lebenslang gesperrt.

Karl Schranz wird eines der letzten Opfer der veralteten Amateuridee

Der österreichische Skirennfahrer und Volksheld Karl Schranz wurde von den Olympischen Winterspielen in Sapporo 1972 ausgeschlossen, weil er bei einem Fußball-Benefizspiel ein T-Shirt mit dem Werbeaufdruck einer Kaffeemarke getragen hatte. Aus Sicht des damaligen IOC-Präsidenten Avery Brundage ein grober Verstoß gegen den Amateurgedanken. Heute besitzt Schranz ein Hotel in St. Anton am Arlberg, auf dessen Homepage zu lesen ist, welche Folgen sich daraus ergaben: "Mit seinem Ausschluss von den Olympischen Winterspielen 1972 in Sapporo wurde Karl Schranz das Opfer eines veralteten Amateurparagrafen - und zugleich zum Wegbereiter der modernen Olympischen Spiele."

Die Amateurregel, die Schranz zu Fall brachte, wurde ein halbes Jahr später in München von dem amerikanischen Schwimmer Mark Spitz untergraben. Mit sieben Goldmedaillen war Spitz der Superstar der Spiele von 1972. Bei einer Siegerehrung winkte er mit seinen Sportschuhen in die Menge, eine werbeträchtige Aktion, die gegen die olympischen Regeln verstieß und die Sowjetrussen veranlasste, sogleich den Ausschluss des Amerikaners zu fordern. Anders als im Fall Schranz scheute IOC-Präsident Avery Brundage diesen Schritt, der wohl einen Riesenaufschrei provoziert hätte. Sofort testeten auch andere Aktive die Grenzen aus. Der Schwede Gunnar Larsson, Olympiasieger im Lagenschwimmen, fand ebenfalls Gefallen "an der Präsentation von Markenartikeln aus dem Olympialand", wie das Magazin Der Spiegel süffisant anmerkte.

Ulrike Meyfarth bekommt noch Ärger wegen eines Werbeschilds in einem Friseursalon

Der Münchner Historiker Ferdinand Kramer sagt, die ausschließliche Zulassung von Amateuren sei 1972 in Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen geraten. Immer mehr Sportlerinnen und Sportler hielten zwar als Armeeangehörige oder als College-Studierende den Schein des Amateurstatus aufrecht, konnten sich aber, von Streitkräften oder Universitäten alimentiert, weitgehend dem Leistungssport widmen. Deshalb hatte die Bundesregierung bereits 1968 das Verteidigungsministerium aufgefordert, Sportfördergruppen aufzustellen. Auch, um bei den Spielen in München mit den Staatsamateuren des Ostblocks konkurrieren zu können.

In finanzieller Hinsicht waren viele Olympiasieger von 1972 trotzdem noch echte Amateure. Die Hochsprungsiegerin Ulrike Nasse-Meyfarth erzählte kürzlich der SZ, sie habe für ihren Sieg keine Prämie bekommen und auch keinen Pfennig Förderung, stattdessen Ärger wegen eines Schildes im Schaufenster ihres Friseurs: "Hier wird die Olympiasiegerin frisiert." Der Leichtathletikverband witterte bezahlte Werbung und kostenloses Haareschneiden, was laut Amateurregel verboten war.

Auch Heide Rosendahl-Ecker, Doppel-Olympiasiegerin in München, beteuert, sie habe mit dem Sport kein Geld verdient: "Ich musste meine Berufsausbildung immer im Auge haben und dafür sorgen, dass ich Unterhalt hatte." Das heißt freilich auch, dass die Amateurregel wohlhabende Sportler bevorzugte. Diese konnten sich ohne die Mühen des Broterwerbs ganz dem Sport widmen.

Dieser Zwiespalt musste aufgelöst werden. Auf dem elften IOC-Kongress im September 1981 in Baden-Baden wurde der Amateurparagraf quasi ad acta gelegt. Überdies sollte die Liberalisierung der Zulassungsregel ermöglichen, dass die besten Sportler an den Olympischen Spielen teilnehmen konnten. "Trotzdem spukte immer noch der Geist des Amateur-Zeitalters herum, was die Athleten verwirrte", sagt der Sporthistoriker Wassong. So wurde der schwedische Skirennläufer Ingemar Stenmark wegen einer 1980 erteilten Profilizenz von den Winterspielen in Sarajewo 1984 ausgeschlossen. Die amerikanischen Skifahrer Phil und Steve Mahre, die ihre hohen Einkünfte im Gegensatz zu Stenmark bei ihrem Verband angezeigt hatten, durften dagegen starten.

Bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 fielen dann die letzten Schranken. Nun durften sogar die Millionen verdienenden Tennisprofis antreten, was Deutschland eine Goldmedaille durch Steffi Graf bescherte. 1992 in Barcelona deklassierte eine Auswahl von hoch bezahlten NBA-Profis aus den USA, das sogenannte Dream-Team, den Rest der Basketball-Welt. Und auch die millionenschweren Profifußballer mutierten zu Olympioniken. 2008 war der angehende Weltfußballer Lionel Messi für Argentinien im Einsatz, 2012 lief Neymar, der aktuell teuerste Fußballer der Geschichte, bei Olympia für Brasilien auf. 2016 wurden dann auch die Profigolfer ins olympische Programm aufgenommen.

Trotzdem: Die Professionalisierung machte bei Weitem nicht alle Sportler zu Millionären. Die Entwicklung verlief in den verschiedenen Sportarten sehr unterschiedlich. Laut einer Studie lag der Bruttostundenlohn von Spitzensportlern in Deutschland im Jahr 2017 unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Natalie Geisenberger, sechsmalige Olympiasiegerin im Rennrodeln, lobt dennoch das Fördersystem im deutschen Sport. Ihr Arbeitgeber ist die Bundespolizei, womit ihr Grundgehalt und ihre Berufsausbildung gesichert war. Dazu kommt die Sporthilfe. "Es ist nicht so, dass ich mich im Reichtum wälzen könnte und ausgesorgt habe, aber ich würde meinen Sport nicht tauschen wollen für ein bissl mehr Geld", sagt Geisenberger.

Um von der Sporthilfe eine Prämie von 20 000 Euro zu erhalten, muss man allerdings schon einen Olympiasieg erringen. Im Frauen-Eishockey mussten die deutschen Athletinnen vor den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi sogar ihre Übernachtungen im Trainingslager teilweise noch selber bezahlen. In manchen Sportarten wird der alte olympische Amateurgedanke nach wie vor übererfüllt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5652806
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/dac
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.