SZ-Serie "Scharf gestellt":Was passiert, wenn der letzte Winkel dieses Planeten ausgebeutet ist? 

SZ-Serie "Scharf gestellt": Licht ist das Medium der Fotografie, doch nur wenige beschäftigen sich wohl so intensiv mit dem Licht wie Olaf Otto Becker. Seine großformatigen Landschaftsaufnahmen sind wie Gemälde.

Licht ist das Medium der Fotografie, doch nur wenige beschäftigen sich wohl so intensiv mit dem Licht wie Olaf Otto Becker. Seine großformatigen Landschaftsaufnahmen sind wie Gemälde.

(Foto: Olaf Otto Becker)

Der Münchner Olaf Otto Becker fotografiert Eisberge, die aussehen wie Skulpturen. Hat er einen gefunden, wartet er tagelang auf das richtige Licht. Er hört den Koloss gurgeln und schnauben, und ist sich dessen Macht bewusst. Denn die Begegnung birgt auch Gefahren.

Von Martina Scherf

Dieser Eisberg steht da wie eine Skulptur. Geschaffen von einem unsichtbaren Schöpfer. Majestätisch und doch bedroht - das denken heutige Betrachter ja unweigerlich mit. Die Vergänglichkeit der Schönheit. Der Himmel ist in diffuses Licht getaucht, die Umrisse des Berges spiegeln sich im Wasser. In den Bildern von Olaf Otto Becker bekommen Eisberge eine beeindruckende Präsenz, ja, Charakter. Manche scheinen einen anzublicken, mit Schatten wie dunkle Augen und Höhlen wie aufgerissene Münder.

SZ-Serie "Scharf gestellt": Vergängliche Schönheit, in einem ganz besonderen Moment festgehalten.

Vergängliche Schönheit, in einem ganz besonderen Moment festgehalten.

(Foto: Olaf Otto Becker)

"Für mich sind Eisberge einzigartige Zeugen der Verwandlung", sagt der Fotograf. Der Klimawandel lässt sich nirgends so anschaulich verfolgen wie beim Schmelzen und Brechen des arktischen Eises. Auch deshalb fährt Olaf Otto Becker immer wieder nach Grönland. Diese Landschaft mit ihrer vergänglichen Schönheit, mit ihren unendlichen Schattierungen von Weiß bietet ihm immer wieder neue Bilder. "In dem kurzen arktischen Sommer dreht die Sonne ihre Kreise am Himmel, ohne jemals den Horizont zu berühren", erzählt er. Er fotografiert dann oft nachts.

Licht ist das Medium der Fotografie, doch nur wenige beschäftigen sich wohl so intensiv mit dem Licht wie Olaf Otto Becker. Seine großformatigen Landschaftsaufnahmen sind wie Gemälde, sie provozieren Gedanken über Raum und Zeit.

Einige seiner Fotografien hängen an der Wand seines Ateliers. Sie ziehen einen magisch hinein in die Landschaft - unmöglich, teilnahmslos zu bleiben. Und dann stellen sich unwillkürlich Fragen: Welche Rolle spielt hier der Betrachter? Was passiert, wenn der letzte Winkel dieses Planeten ausgebeutet ist? Was bleibt, wenn der Mensch sich eines Tages selbst abgeschafft hat?

Mehrfach nahm Becker an internationalen Forschungsexpeditionen teil, die den Spuren des Klimawandels nachgehen. In Ilulissat, einem kleinen Dorf an der Küste, fand er bei einer dieser Reisen die idealen Bedingungen für seine Aufnahmen. Mehr als eine Woche lang saß er dort am Fenster seines Zimmers oberhalb des Hafens, blickte aufs Meer und wartete. Es wurde Tag, es wurde Nacht, aber im arktischen Sommer ist der Unterschied kaum auszumachen. Der Nebel war mal dicker, mal dünner. Ab und zu drangen Sonnenstrahlen hindurch. Der Fotograf wartete und wartete - bis zu diesem Augenblick: "Wenn die Sonne alles so diffus zeichnet, dass man nicht sagen kann, ob es Morgen, Mittag oder Abend ist, dann finde ich meine Bilder", sagt er.

"Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vorstellung verschwimmen"

Diese Reisen, erzählt er, seien auch nach all den Jahren immer wieder eine Auseinandersetzung mit sich selbst. "Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vorstellung verschwimmen. Es sind diese Momente der Stille, in denen ich mir unvermittelt selbst begegne".

Er mietete dann ein Boot und fuhr die Küste entlang. Wählte die ideale Position vor dem Eisberg, schaltete den Motor aus und wartete, bis die Wellen vergangen und das Meer spiegelglatt war. "Manche Eisberge drücken immer wieder Luft aus den überstehenden Kanten nahe an der Wasseroberfläche. Das ist dann ein Gluckern und Schnauben, als würden sie atmen", erzählt er.

Die Kolosse können aber auch gefährlich sein. Einmal fuhr Becker 4000 Kilometer im Schlauchboot an Grönlands Küste entlang. Einen Moment lang war er unaufmerksam, das Boot touchierte eine Eisscholle, er wurde über Bord geschleudert. Er überlebte mit viel Glück. Weil er einen Trocken-Taucheranzug und Schwimmweste trug, konnte er verletzt, mit Platzwunde und Gehirnerschütterung, zum Boot zurückschwimmen und wieder hineinklettern.

Olaf Otto Becker, Jahrgang 1959, ist an der Ostsee aufgewachsen, in Travemünde. Er begann früh zu malen, betrieb es einige Jahre lang sehr intensiv. "Aber irgendwann stellte ich fest: Beim Malen finde ich meine Bilder nicht", sagt er. Da begann er zu fotografieren. Er studierte Kommunikationsdesign und Philosophie in Augsburg und München, arbeitete viele Jahre in der Werbung. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, er hat in Museen und Galerien weltweit ausgestellt.

Der Großteil seiner Aufnahmen entstand mit einer analogen Großbildkamera

Vor Kurzem zog er von München nach Bad Tölz, wo er im ehemaligen Wohnhaus des Brauereibesitzers sein Atelier einrichten konnte. Er hat dort viel Platz, den braucht er auch, weil er alles selbst macht: die großformatigen Abzüge seiner Aufnahmen auf Alu-Dibond-Platten, die Rahmungen, die Druckvorlagen für die Bücher (fast alle sind bei Hatje-Cantz erschienen), die Vorbereitung der Ausstellungen.

Der Großteil seiner Aufnahmen entstand mit einer analogen Großbildkamera, auf acht mal zehn Zentimeter-Platten. 25 Kilogramm wog die Ausrüstung, er schleppte sie übers Eis, trug sie durch Städte, Flughäfen und durch den Regenwald. Seit einiger Zeit fotografiert er mit einer Digitalkamera. "Die Auflösung ist inzwischen mindestens genauso gut", sagt er. Das erleichtert das Reisen.

Aber seine Arbeitsweise, sagt er, sei immer noch die Gleiche. "Das Schöne beim Großformat ist: Du konzipierst das Bild vorher im Kopf, und erst wenn alles feststeht, Licht, Standort, Winkel, Ausschnitt, fotografierst du. Ich mache das bis heute so, auch mit der Digitalkamera: nur eine einzige Einstellung." Wie ein Maler, der nur ein Bild produziert.

Für "Reading the Landscape" hat er im Regenwald in Indonesien und Malaysia fotografiert. Sind es im Norden die unendlichen Nuancen von Weiß, die seine Bilder kennzeichnen, so sind es in den Tropen die Schattierungen von Grün. Er hat eine Bilderfolge geschaffen, von der intakten Natur des Regenwaldes über die geschundene Natur, mit den Spuren von Kahlschlag und Brandrodungen, bis zur künstlichen Natur in den Städten, wo die glitzernden Fassaden der Hochhäuser mit Dachgärten begrünt werden.

"Diese Regenwälder haben Millionen Jahre gebraucht für ihre Entstehung. Genauso wie die fossilen Energien, die in der Erde unter dem Eis gespeichert sind. Und wir zerstören sie in wenigen Jahren", sagt der Fotograf.

SZ-Serie "Scharf gestellt": "Für die Einwohner der Stadt Tiksi, ist das Schwinden des Eises eine gute Nachricht", sagt Olaf Otto Becker. Die Kinder am Ort erzählten ihm von ihren Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.

"Für die Einwohner der Stadt Tiksi, ist das Schwinden des Eises eine gute Nachricht", sagt Olaf Otto Becker. Die Kinder am Ort erzählten ihm von ihren Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.

(Foto: Olaf Otto Becker)

In Sibirien dokumentierte er, ebenfalls als Begleiter einer Forschungsexpedition, 2019 das Tauen des Permafrosts. Und diesmal beschäftigte er sich nicht nur mit der Landschaft, sondern auch mit ihren Bewohnern. "Für die Einwohner der Stadt Tiksi, ist das Schwinden des Eises eine gute Nachricht", erzählt er. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte ihre Region einen wirtschaftlichen Niedergang, viele Menschen wanderten ab. Becker hielt die Relikte dieses Verfalls in seinen Bildern fest: ein verrostetes Schiffswrack, eine halb eingestürzte Sporthalle, heruntergekommene Häuser. Doch seit einiger Zeit ist im Sommer die Nord-Ost-Passage, die Atlantik und Pazifik verbindet, befahrbar, der zunehmende Schiffsverkehr bringt einen bescheidenen Wohlstand in die Region. Die Kinder am Ort erzählten Becker von ihren Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.

SZ-Serie "Scharf gestellt": An der Küste Sibiriens, wo sich die Eiszungen langsam zurückziehen, bleiben dunkle Wurzelballen stehen. Wie einsame Wächter.

An der Küste Sibiriens, wo sich die Eiszungen langsam zurückziehen, bleiben dunkle Wurzelballen stehen. Wie einsame Wächter.

(Foto: Olaf Otto Becker)

"Fotografie sollte etwas aussagen über unsere Gegenwart", sagt Becker. Die Kunst seiner Bilder ist aber viel mehr als das, es sind beeindruckende Dokumente der Schönheit des Planeten. Selbst an der rauen, grauen Küste Sibiriens. Dort, wo sich die Eiszungen langsam zurückziehen, bleiben dunkle Wurzelballen stehen. Wie Skulpturen, wie einsame Wächter am Meeresufer.

Die Sibirien-Bilder von Olaf Otto Becker werden zusammen mit ausgewählten früheren Arbeiten vom 16. Oktober bis 16. Januar 2022 in der Technischen Sammlung in Dresden gezeigt.

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