Wiesn-PfarrerZwischen Rausch und Religion

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Seit 2014 ist Sascha Ellinghaus Wiesn-Pfarrer, in diesem Jahr hat er dieses Amt erstmals alleine inne.
Seit 2014 ist Sascha Ellinghaus Wiesn-Pfarrer, in diesem Jahr hat er dieses Amt erstmals alleine inne. (Foto: Florian Peljak)

Sascha Ellinghaus reist als Wiesn-Pfarrer mit den Schaustellern quer durch Deutschland. Immer mit dabei: ein tragbarer Altar und eine mobile Orgel. Doch wie passen Glaube und übermäßiges Feiern überhaupt zusammen?

Von Sarah Maderer

Ein Pfarrer fürs Oktoberfest? Das klingt ungewöhnlich, gibt es aber bereits seit Jahren. Genau genommen haben sich seit 2014 sogar zwei Priester um die Schausteller auf der Münchner Wiesn gekümmert. Doch nach dem Tod des Dominikanerpaters Paul Schäfersküpper, der bis zu seinem Tod Ende Dezember 18 Jahre lang der Schausteller-Seelsorger für Oberbayern und Schwaben und damit auch zuständig für das Oktoberfest war, ist nun Sascha Ellinghaus als Nationalseelsorger alleine für das größte Volksfest der Welt zuständig. Bis Schäfersküppers Nachfolge besetzt werden kann, wird er als einer von deutschlandweit nur vier Schausteller-Seelsorgern die Stellung "hier unten" halten, wie er sagt.

Schon als Kind habe er gerne den Zirkus und die Kirmes besucht und alte Zirkusplakate gesammelt, sobald die Schausteller aus der Stadt abreisten, erzählt der 50-Jährige im Gespräch. Während seines Studiums in Paderborn verlor er die Branche aus den Augen, brachte sie nicht mit dem Priesteramt in Verbindung und wähnte den eigenen Platz "in einer netten barocken Pfarrkirche, ganz klassisch".

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Wobei: Der Weg ins Priesteramt stand für Ellinghaus nicht immer zweifelsfrei fest. Er nahm sich zwischen dem theologischen Vordiplom und den letzten vier Studiensemestern ein Freijahr und stellte Gott in dieser Zeit ein Ultimatum: Entweder, du schickst mir jetzt den richtigen Partner und damit ein Signal, dass mein Weg ein anderer ist, oder ich kehre ins Priesterseminar zurück. Der göttliche Wink bleibt aus. Wäre es anders gekommen, hätte er Gefallen an Grafikdesign oder organisatorischen Berufen finden können. Als Schausteller-Seelsorger kann er heute beides in seine Arbeit einfließen lassen, er gestaltet seine Gottesdienstplakate selbst und betreibt quasi sein eigenes Logistikzentrum in Form eines Kleinbusses, der ihn von seinem Stammsitz bei Bonn durch die Bundesrepublik und das eng getaktete Kalenderjahr bringt.

Denn das Leben als Schausteller-Seelsorger ist anstrengend. Etwa ein Drittel seiner Zeit verbringt Sascha Ellinghaus unterwegs und in Hotels, versucht möglichst vielen Anfragen nachzukommen. "Wenn man Menschen mag, gibt man manchmal Zusagen, die chronologisch und logistisch nicht immer vernünftig sind. Der Kalender sagt ,Nein' und man selbst sagt ,Ja'", sagt er. Das Berufsrisiko eines Pfarrers, dessen Gemeinde sich über das ganze Land verteilt.

"Auf dem Volksfest wie in jeder Gemeinde gibt es Licht und Schatten."

Umso besser kann sich Ellinghaus in die Schausteller hineinfühlen, führt er doch wie sie die meiste Zeit ein Vagabundenleben. Das bedeutet, einerseits dort zu arbeiten, wo andere feiern, und andererseits soziale Beziehungen über zeitliche und räumliche Distanz aufrechtzuerhalten. Auch ständiges Abschiednehmen ist Ellinghaus nicht fremd, heute nicht und schon als Kind und Jugendlicher war es das nicht.

Er wuchs in Braunschweig, Dortmund, Hamburg, Frankfurt und Herdecke im Ruhrgebiet auf. "Nein, meine Eltern waren keine Schausteller", witzelt er. Mit jeder Beförderung seines Vaters bei einer Warenhauskette, wo damals grundsätzlich nicht im selben Haus Kollegen zu Vorgesetzten befördert wurden, steht ein Umzug ins Haus, etwa im Vierjahres-Rhythmus heißt es für Teenager Sascha Schule, Freunde, vielleicht sogar Bundesland wechseln. "Der Unterschied ist: Damals bedeutete ein Umzug immer Freundschaften abbrechen und neu einfinden, heute reise ich mit denselben Leuten mit, die ich woanders wieder treffe."

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Dass ihm der ständige Post-Umzugs-Neustart "mal leichter, mal schwerer" gefallen sei, deutet ein schwermütiger Ausdruck in Ellinghaus' ansonsten froher Miene an. Er lenke seinen Blick lieber auf das Schöne. Dadurch würden auch Ausschweifung, die ja an einem Arbeitsplatz wie dem Oktoberfest ad extremum geführt wird, und Religion für ihn vereinbar. "Auf dem Volksfest wie in jeder Gemeinde gibt es Licht und Schatten, Gnade und das, was die Kirche als Sünde bezeichnet. Es ist immer die Frage, wo ich hinschauen möchte, man kann ja seinen Blick auch lenken." Am Alkohol sei nichts auszusetzen, das Bier dürfe man gerne genießen, findet er und deutet auf die Radlerhalbe vor ihm: "Aber eben in dem Maß, dass man anderen keinen Nachteil bereitet."

Trotz aller Reisen und Hotelübernachtungen fühle er sich nicht einsam, sagt Ellinghaus: "Egal, welchen Festplatz ich betrete: Es wird nirgendwo so sein, dass ich niemanden kenne. Ich bin immer in meiner Gemeinde zu Hause." Zufluchtsorte gebe es für ihn auf so einem Festgelände genug, er könne sich wie ein Familienmitglied bewegen, durch die nächste Hintertür auf einen Kaffee oder in die nächste Fahrgeschäftsbude auf einen Plausch. "Ich habe das Gefühl, dass ich eine engere Herzensbindung zu den Menschen im Zirkus und auf dem Volksfest habe, als ich das vorher in der Zeit meiner Pfarrei hatte."

Taufen, Kommunion und Hochzeiten finden auch auf Volksfesten statt

Die meisten Schausteller hält Ellinghaus für sehr traditionsverbunden. Sie schätzen es, dass er mit einem sakralen Pop-up-Raum Kirche zu ihnen bringt, sei es für eine Taufe, Kommunion, Hochzeit oder die Fahrgeschäft-Weihe. Seit 1956 gibt es diesen Zweig der Seelsorge, als Papst Pius XII. dem ersten Schausteller-Seelsorger in einem offiziellen Dokument gestattete, Gottesdienste außerhalb eines geweihten Kirchenraums abzuhalten. Ein "geziemend hergerichteter" tragbarer Altar sei als Bedingung aufgestellt worden, daran hält sich Ellinghaus bis heute.

Egal ob mobile Orgel, Spitzendecke oder bestickter Damast, es gehe um "eine würdige Gestaltung, denn für die Schausteller bedeutet das regulären Gottesdienst". Transport, Aufbau und Instandhaltung dieses rund 400 Kilogramm schweren Equipments seien nicht nur körperlich anstrengend, sondern nehme auch viel Vorbereitungszeit in Anspruch. Wenn es seine Gesundheit zulasse, würde Sascha Ellinghaus gerne bis ins Rentenalter Nationalseelsorger bleiben.

Vielleicht findet sich bis dahin noch Unterstützung für den südbayerischen Raum. Das komme aber auf den jeweiligen Kollegen an. "Ich glaube, Schausteller brauchen etwas Handfestes, nichts zu Exzentrisches." Also einen Seelsorger zum Anfassen wie Sascha Ellinghaus.

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