Oktoberfest-Phantomschmerz:Irgendwo ist immer Wiesn

Oktoberfest-Phantomschmerz: Die Wiesnbierprobe mit Brauereichef Andreas Steinfatt und Wiesnwirtin Arabella Schörghuber fand ebenfalls statt.

Die Wiesnbierprobe mit Brauereichef Andreas Steinfatt und Wiesnwirtin Arabella Schörghuber fand ebenfalls statt.

(Foto: Catherina Hess)

Das Oktoberfest lässt sich zwar durch nichts ersetzen, aber die Versuche dazu sind äußerst vielfältig: Der Alt-OB zapft zum Beispiel im Wirtshaus an - und ein Promi-Wirt lässt sich den Hintern versohlen.

Von Franz Kotteder

Die Woche davor herrscht immer eine besondere Stimmung in der Stadt. Die einen schauen gespannt in den Himmel oder auf den Wetterbericht und rätseln, ob die Wolken wohl verschwinden bis zum Samstag. Man will ja schließlich sein sorgsam gebräuntes Dirndl-Dekolleté ausführen. Oder seine strammen Haxen zeigen, an denen die handgestrickten Stutzerl keinesfalls nach unten bis auf die Haferlschuhe rutschen dürfen, denn das wäre der Beweis dafür, dass ihr Träger halt doch nur über erbarmungswürdige Spatzenwadl verfügt.

Andere in der Stadt, die meist näher am Ort des Geschehens wohnen, packen normalerweise jetzt die Koffer, um sich für zwei Wochen aus der Stadt zu verabschieden. Das erinnert an Westernfilme über die ersten weißen Siedler, die all ihr Hab und Gut in die Planwagen packen, um zu verschwinden, bevor die blutrünstigen Indianer kommen oder die gnadenlosen Banditenhorden angreifen. Ganz so Furchterregendes droht zwar nicht in diesen Wochen Ende September, Anfang Oktober. Aber grölende Menschenmassen und superlustige Klingelputzer in der Nacht und die unselige Frage, was einen da erwartet, wenn man morgens die Haustür aufmacht oder welcher Volldepp einem über den Briefkasten oder auf die Kühlerhaube gereihert hat: All das kann einem das größte Volksfest der Welt schon gehörig verleiden.

In diesem Jahr ist freilich alles anders. Es gibt bekanntlich keine Wiesn, Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) wird am Samstag in einer Woche nicht um zwölf Uhr Mittag die berühmten Worte "Ozapft is!" ausrufen, es gibt keinen Wirteeinzug in Pferdekutschen, und es gibt auch keinen mehrstündigen Trachtenzug mit Vereinen aus ganz Bayern und dem Rest der Welt am darauf folgenden Sonntag.

Manche Münchner verspüren da jetzt schon Wiesnphantomschmerzen. Sie wissen, dass da nichts ist und nichts sein wird, wollen aber trotzdem irgendwie so weitermachen, als wäre etwas. Ja, man kann sagen: Es lappt fast ins Metaphysische, wie eine Stadt wild entschlossen scheint, etwas irgendwie doch noch stattfinden zu lassen, was erwiesenermaßen gar nicht stattfinden kann. Schon weil der Ort fehlt und alle anderen Voraussetzungen dafür auch nicht verfügbar sind.

In der typisch münchnerischen Logik muss das jedoch noch nichts heißen. Es kann nämlich auch etwas da sein, was es gar nicht gibt. Folgerichtig nennt zum Beispiel Michael Käfer die Veranstaltungsreihe in seinem Stammhaus an der Prinzregentenstraße eiskalt: "Koa Wiesn". Es gibt dort bis zum 3. Oktober mittags ein Dreigangmenü aus käfertypischen Wiesngerichten. Das Kalkül ist klar: Wer sonst die Geschäftsfreunde oder den Vorstand zum Käfer in die Wiesn-Schänke eingeladen hat, der soll heuer eben eine der Stuben im Bogenhausener Promischuppen buchen.

Oktoberfest-Phantomschmerz: Einen offiziellen Wiesnkrug der Stadt gibt es heuer auch, ganz ohne Fest.

Einen offiziellen Wiesnkrug der Stadt gibt es heuer auch, ganz ohne Fest.

(Foto: Stephan Rumpf)

Einem ähnlichen Prinzip folgt die sogenannte Wirtshaus-Wiesn, die stilgerecht am 19. September Punkt zwölf Uhr mit dem Anzapfen beginnt. 54 Münchner Wirtshäuser machen da mit, überall wird flächendeckend angezapft, überall spielt die Musi auf. Und der Oberbürgermeister erhält von der Bild-Zeitung eine schwere Rüge, weil er sagt, er wolle nirgendwo anders anzapfen als auf der Wiesn selbst. Wie kann man sich aber auch nur einer so drängenden Aufgabe von nahezu nationaler Bedeutung verweigern? Sein Amtsvorgänger Christian Ude, der ohnehin gelegentlich unter Aufgabenentzug zu leiden scheint, kümmert sich immerhin im Schiller-Bräu, einer kleinen Wirtshausbrauerei in der Schillerstraße, um das erste Fass.

Mit am konsequentesten setzen die jungen Szene-Gastronomen von der Max-Emanuel-Brauerei in der Adalbertstraße das allgemeine Wiesn-Placebo in die Tat um. Zu "Zeltstimmung mal anders" laden sie ein, man kann wie auf der richtigen Wiesn Zehnertische im Saal und in zwei Schichten reservieren, die Mindestabnahme beträgt zwei Mass und das Brotzeitbrettl kostet einen Zehner pro Mund-Nasen-Schutz. Da fühlt man sich fast schon wie auf dem richtigen Oktoberfest, wenn die Kapelle auch noch das "Bergwerk" und "Hulapalu" draufhat. Die Ankündigung liest sich allerdings auch so, als könnte genau das dort stattfinden, was durch die Absage der Wiesn verhindert werden sollte: eine Riesenparty, bei der sich ein Haufen besoffener Menschen viel näher kommt, als ihm gesundheitlich guttut.

Aber das hieße die ganze Angelegenheit wohl schon wieder arg despektierlich zu betrachten. Man kann ja auch ganz anders, viel zurückhaltender feiern. Mit einer kleinen Träne im Augenwinkel gewissermaßen. So wie es die Wiesnwirte, die mit der Paulaner- und der Hacker-Pschorr-Brauerei verbunden sind, am Mittwoch dieser Woche auf dem Nockherberg getan haben. Da präsentierten die beiden Braumeister Christian Dahncke und Rainer Kansy nämlich ganz offiziell ihre beiden Wiesnbiere 2020 fast so, als gäbe es ein Oktoberfest. Leider nur fast so, denn eine gehörige Portion Wehmut war schon zu verspüren. Natürlich ist die Wiesn für Münchner Brauer und Wirte der Höhepunkt des Bierjahres - selbst dann, wenn man die entgangenen Einnahmen mal beiseite lässt. Da geht es durchaus um Emotionen.

Wiesn-Bier haben übrigens praktisch alle Brauereien als Sonderedition eingebraut - von Augustiner findet man im Getränkemarkt zum Beispiel einen Fünferturm aus Bierträgern für 114 Euro. Wenn man die vielen Wiesnersatzaktionen so durchgeht, dann kann man nur hoffen, dass sie trotz der Pandemie großzügig kalkuliert haben und der Gerstensaft nicht schon am Italienerwochenende zur Neige geht. Es gibt ja endlos viele Gelegenheiten, es zu konsumieren. Etwa auf der "Taste Tours Wiesn-Edition", bei der sieben Gäste drei Stunden lang durch München gekarrt und mit einschlägigen Spezialitäten verköstigt werden. Oder beim "Trachtival" im Werksviertel, wo es "mit Wilder Maus und Hang Over" auch um ein weiteres Oktoberfestklischee geht: Dirndl und Lederhosen natürlich.

Schließlich darbt hier eine ganze Branche, Heerscharen von Dirndl-Designerinnen - ein sehr münchnerisches Berufsbild - sind derzeit auf Kurzarbeit gesetzt, und Münchens oberster Trachtenausstatter Axel Munz rettet sich mit Modenschauen über die Runden. Er ist auch am ersten Wiesndienstag im Wirtshaus Bachmaier Hofbräu an der Leopoldstraße dabei. Dort gibt es "Eine Tracht Prügel - das etwas andere Trachtenfest", bei dem sich Promi-Wirt Hugo Bachmaier, ohnehin keiner grob rustikalen Gaudi abhold, den lederbehosten Hintern versohlen lässt.

Bei so viel Halligalli mag sich selbst der hartnäckigste Wiesnfan mal einen beschaulichen Abend zu Hause wünschen. Er kann sich ja dann eine Wiesnbierkerze von der Firma Candle Brew anzünden, am Tablet durch das "E-Book mit den besten Oktoberfest-Rezepten für die Wiesn dahoam 2020" wischen (wird am nächsten Mittwoch im Forsthaus Kasten präsentiert) oder ganz entspannt dem Wiesnpodcast von Ramona Pongratz, Münchens jüngster Wiesnwirtin vom Paulaner-Festzelt, lauschen (auf Spotify und bei Apple Music). Irgendwo ist immer Wiesn.

So fühlt man sich in München dieser Tage also wie Alice im Wunderland, trotz Corona und nächtlichem Alkoholverbot und Inzidenzwerten und dem ganzen Kram. Denn bei Alice im Wunderland gibt es ja diese herrliche Einrichtung des Nichtgeburtstags, den man an allen Tagen feiern kann, an denen man nicht Geburtstag hat. Die Stadt scheint sich, was das Oktoberfest angeht, in diesem Jahr ein Beispiel daran zu nehmen: Wenn keine Wiesn ist, dann feiern wir eben Nicht-Wiesn. Und zwar volle 16 Tage lang. Mindestens!

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