Oktoberfest:Das Günstigste auf der Wiesn? Das Bier!

Illustration Maßkrug für MRB (21.9.2019)

Maßkrug, das Sinnbild des Oktoberfestes

(Foto: Illustration: Steffen Mackert)

Kaum ein anderes Ereignis ist so klischeebeladen wie das Oktoberfest. Bei genauer Betrachtung aber zeigt sich: Viele Mythen sind einfach nur Mythen.

Von Franz Kotteder

Dieses Jahr gibt es auf dem Oktoberfest eine neue Attraktion, die mit dem Hilfsbegriff "Fahrgeschäft" nur unzureichend beschrieben wäre. Man fährt darin in einer Zweiergondel auf Schienen und auf zwei Etagen durch eine dunkle, völlig schmucklose Blechhalle. Dafür zahlt man stolze zehn Euro. Für die Fahrt bekommt man allerdings eine hochmoderne, schicke Virtual-Reality-Brille aufgesetzt, und dank der saust man nicht durch eine leere Blechhalle, sondern durch fantastische Welten, wird begleitet von einer durchgeknallten Eule und bedroht von schrecklichen Drachen und riesigen Hämmern, die unversehens auf einen niedersausen. Man fliegt durch futuristische Turmlandschaften und durch die Unterwasserstadt Atlantis, weicht gerade so einem Monsterhai aus, um dann durch einen Zeittunnel ins nächste Abenteuer zu entkommen. Doch, die Abenteuerbahn "Dr. Archibald - Master of Time" ist wirklich eine neue Dimension von Schaustellerei. Trotz der leeren Hülle hinter der pompösen Fassade.

Aber so ist das eben mit der Wiesn: Sie ist ein einziges, großes Illusionstheater, das der Besucher mit einem kleinen bisschen Hilfe und kraft seiner eigenen Fantasie wahr werden lassen kann, ja muss. Die Wiesn funktioniert also fast wie das richtige Leben, das ohne Illusionen ja oft auch nur eine matte Sache ist. Und manchmal ist es gerade die Einbildung, welche die größte Kraft ausübt und jedem Realitätssinn hartnäckig trotzt.

Man soll sich ja nicht selbst loben. Aber was jetzt als Erstes kommt, erfordert einigen Mut. Denn es wäre denkbar, für diese Feststellung geteert und gefedert aus der Stadt gejagt zu werden. Schließlich steht für beinahe jeden Münchner und für alle, die dafür gehalten werden wollen, unverrückbar fest: Der Preis für die Wiesnmass ist über alle Maßen so unverschämt hoch, dass nur ganz, ganz schlechte Menschen mit grenzenloser Raffgier - sprich: Wiesnwirte - in der Lage sind, ihn zu verlangen. Deshalb ist es auch völlig unverständlich, warum Jahr für Jahr mehr als sieben Millionen Liter Bier getrunken werden.

Jetzt aber kommt's: Eigentlich ist Bier das Billigste, was man auf der Wiesn kriegen kann.

Verblüffend, nicht? Aber es ist wirklich wahr. Für eine Halbe Bier zahlt man in der Innenstadt mittlerweile im Schnitt um die 4,80 oder 4,90 Euro. Ist's deutlich günstiger, dann handelt es sich meist nicht um eine Halbe, sondern um ein 0,4- oder gar ein 0,3-Liter-Glas. Jedenfalls ist man für den Liter Bier in der Regel erst mit 9,60 bis 9,80 Euro dabei.

Auf dem Oktoberfest aber beträgt der Durchschnittspreis für die Mass heuer 11,54 Euro. Das sind über den Daumen gepeilt 20 Prozent Aufschlag. Den erklären die Wirte der großen Zelte unter anderem mit der Auf- und Abbauzeit von vier Monaten und die dafür fälligen Kosten, mit den Security-Kräften und der Live-Musik im Zelt. Alles Dinge, die man in einem normalen Wirtshaus natürlich nicht hat und auch nicht braucht.

Nun vergleiche man diese 20 Prozent Aufschlag einmal mit den Zuschlägen für andere Getränke, Speisen oder andere Waren auf der Wiesn. Ein halbes Brathendl kostet in München beispielsweise 5,50 im Straßenverkauf und 7,70 Euro im Lokal (Wienerwald). Auf dem Oktoberfest steht es dieses Jahr beispielsweise im Marstall-Festzelt mit 12,50 Euro auf der Karte, in der Festhalle Schottenhamel mit zwölf Euro.

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Wo sonst zahlt man für einen Teller Rahmschwammerl 19,50 Euro oder für sechs Rostbratwürstl mit Kraut mehr als elf Euro? Außer beim Bier ist fast alles auf der Wiesn mehr als 20 Prozent teurer als in der herkömmlichen Gastronomie. Selbst die Schausteller kennen ihren Wiesn-Aufschlag: Die Eintrittspreise für die Fahrgeschäfte sind auf Jahrmärkten in der Provinz deutlich günstiger als auf dem Oktoberfest.

Und damit ist man noch gar nicht bei den Kosten für einen Luftballon oder gar für den berühmten Deppenhut in Bierfassform, den sich sonst aber auch nur die allerwenigsten außerhalb der Theresienwiese kaufen würden.

Die große Illusionsmaschine Oktoberfest

Ein anderes, wesentlich ernsteres und heiß umstrittenes Thema ist die Sicherheit auf dem Oktoberfest. Auf dem Höhepunkt der Terrorangst, vor drei Jahren, wurde man permanent gefragt, ob man sich nicht davor fürchte, auf die Wiesn zu gehen, wegen eines möglichen Anschlags. Davor ist man, ganz klar, niemals sicher. Auf der anderen Seite aber ist die Theresienwiese während des Oktoberfest bestimmt der sicherste Ort der ganzen Stadt.

600 Polizisten sind hier an den 16 Tagen im Einsatz, sie sind nur für die 42 Hektar des Festgeländes zuständig. Pro Hektar bedeutet das rein rechnerisch: Auf einem Quadrat von 100 mal 100 Metern tummeln sich 14,2 Polizeibeamte. Das ist ziemlich viel. Nimmt man die ungefähr 600 privaten Sicherheitskräfte der Stadt noch hinzu und die jeweils 100-120 Security-Leute in den großen Bierzelten, dann treiben sich auf den 1,3 Fußballfeldern, die in etwa einem Hektar entsprechen, deutlich mehr Sicherheitsleute herum als Fußballer in einem Bundesligastadion an einem Spieltag.

7,1 Millionen

Besucher wurden 1985 bei der bisherigen Rekord-Wiesn gezählt. Im Schnitt besuchen das Volksfest auf der Münchner Theresienwiese jedes Jahr im Schnitt etwa sechs Millionen Menschen. Vor drei Jahren gab es einen auffälligen Ausreißer nach unten: Schlechtes Wetter und Terrorangst ließen die Besucherzahl auf 5,6 Millionen sinken. Um das Wohl der Gäste kümmern sich rund 13 000 Arbeitskräfte (von denen etwa 8000 als fest angestellt geführt werden). Das größte Zelt ist das Hofbräuzelt, in dem es, den Biergarten mitgerechnet, knapp 10 000 Sitzplätze gibt. Alle Zelte zusammen können gleichzeitig rund 120 000 Menschen bewirten.

Das spiegelt sich auch in der Sicherheitsstatistik für die Wiesn wider, wenn man in Betracht zieht, dass sich hier Hunderttausende Menschen auf relativ engem Raum aufhalten und dass viele von ihnen nur eingeschränkt zurechnungsfähig sind. Das gilt für beinahe alle Delikte, obwohl viele das nicht glauben wollen. Nach den sexuellen Übergriffen und Straftaten in der Silvesternacht 2015 auf der Kölner Domplatte behaupteten manche, das sei auf dem Oktoberfest doch ganz genauso. Dort gebe es jährlich zehn Vergewaltigungen, die Dunkelziffer liege gar bei 200.

Tatsächlich liegt die Zahl der von der Polizei ermittelten Fälle wesentlich niedriger: Auf der Wiesn und im näheren Umfeld sind es zwischen null und vier im Jahr - auch eine Folge der beinahe lückenlosen Videoüberwachung des Festgeländes. Allerdings sind dabei kaum Fälle erfasst, die weiter entfernt als Folge eines Wiesnbesuchs vorkommen. Die Zahl der Sexualdelikte ist aber in den vergangenen Jahren wieder angestiegen, was auch daran liegt, dass die entsprechenden Gesetze drastisch verschärft wurden. Und durch Alkohol enthemmte Trottel gibt es natürlich immer noch genug.

Ähnlich verhält es sich mit anderen Delikten. Taschendiebe gibt es hier zwar nach wie vor. Aber es dürfte sich bei ihnen nicht um die hellsten handeln, wenn sie es ausgerechnet auf dem Oktoberfest versuchen. Gewalttaten sind immer noch stark vertreten, gehen aber auch seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten zurück.

Echte Enthauptungen? Typischer Biergeschmack? Original Tracht? Ach was!

So ließen sich noch viele Beispiele für die große Illusionsmaschine Oktoberfest finden. Man lässt sich ja auch gerne mal vormachen, dass ein freier Fall aus 60 oder 70 Metern Höhe folgenlos bleibt, oder dass man, wie beim Schichtl, eine lebende Person auf offener Bühne enthaupten kann und sie danach weitermacht, als wäre nichts geschehen. Manche glauben gar, das Kasperlgewand, das am Hauptbahnhof oder in manchen Bekleidungsgeschäften angeboten wird, sei eine original Münchner Tracht. Dabei hat es historisch nie eine solche gegeben. Weshalb anständige Münchner heute immer noch in Jeans und T-Shirt auf die Wiesn gehen und deshalb auch niemals blöd angeredet werden dürfen.

Viele, selbst Eingeborene, behaupten übrigens weiter, das Bier dieser oder jener Brauerei habe im Jahr zuvor ganz anders geschmeckt. In Wirklichkeit dürfte kaum ein Mensch in der Lage sein, sich an einen konkreten Geschmack über ein Jahr hinweg zu erinnern - es sei denn, dieser Geschmack war mit einem besonders intensiven Erlebnis verbunden, und wann ist er das schon? Nicht wenige Wiesn-Besucher wären ja schon froh, wenn sie noch wüssten, was am Vorabend eigentlich genau gewesen ist. Wie soll man da noch wissen, wie das Bier vor einem Jahr schmeckte? Ein weiterer Hinweis auf Realitätsverlust ist der Glaube, man könne vier Liter Bier mit hohem Alkoholgehalt in sich hineinschütten, ohne dass das Folgen für den nächsten Tag habe. Freilich: Zwischendrin blitzt manchmal etwas Erkenntnis auf. Etwa wenn die Menschen in den Bierzelten aus voller Kehle singen: "Rätätä, rätätä, morgen hamma Schädelweh!"

Bei aller Freude am Realitätsverlust: So ganz auf die Spitze treiben will man ihn auch auf der Wiesn nicht. Das spürt man selbst beim Fahrgeschäft Dr. Archibald. Fast wie aus schlechtem Gewissen haben die Macher nämlich vor die Fahrt durch den Cyberspace ein sehr realistisches Kabinett in Gestalt einer dunklen und holzvertäfelten Bibliothek gesetzt, mit sehr realistischen Menschenpuppen. Und danach noch einen kleinen Hindernisparcours über einen Wassergraben. Fast so, als ob sie der technisch unterstützten Kraft der Fantasie doch nicht ganz trauten.

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