Süddeutsche Zeitung

Obdachlose in München:Sogar Pfandflaschen findet man weniger

Jürgen Neitz ist seit zwölf Jahren obdachlos. Warme Orte werden für ihn und andere Obdachlose in der Pandemie knapp.

Von Thomas Anlauf und Simon Garschhammer

Schnee legt sich wie ein eisiges Laken in die Kapuze von Jürgen Neitz. Die Luft ist beißend kalt, doch der 66-Jährige steht vor einer Eingangstür und wartet geduldig in der Dunkelheit. Es tauchen andere Männer auf, immer mehr, bis sich eine lange Schlange hinter Jürgen Neitz bildet. Nach zweieinhalb Stunden Warten öffnet sich die Tür, es ist halb neun Uhr früh. Jürgen Neitz tritt ein. Im Begegnungszentrum D 3 an der Dachauer Straße ist er zumindest für einige Stunden von der Straße.

Für viele Obdachlose wie Jürgen Neitz ist das D 3 ein wichtiger Zufluchtsort. Vor der Kälte, dem Elend, aber auch vor der Einsamkeit. Hier bekommen sie Kaffee, eine Mahlzeit, können ihre Wäsche waschen, sich duschen und mit anderen reden. Doch der Platz ist begehrt und begrenzt zugleich. Vor Corona konnten hier bis zu 90 Menschen gleichzeitig sein, durch die Beschränkungen höchstens 22. Schnell sind alle Plätze besetzt, nur eine Person darf pro Tisch sitzen. Ein alter Mann lehnt seine Krücken an den Tisch und zündet sich ein Zigarillo an. Ein anderer hat die Kapuze tief im Gesicht und öffnet eine Plastikflasche Bier. Jürgen holt sich derweil Kaffee, Alkohol trinkt er nicht. Wer gerade raucht oder etwas trinkt, trägt hier keine Maske. Geredet wird nur selten, obwohl der Raum voller Menschen ist.

"Die Grundstimmung ist zur Zeit sehr angespannt", sagt Winfried Gehensel, Leiter der Einrichtung. Die Situation sei für Obdachlose gerade sehr hart, bei vielen herrsche große Unsicherheit. Die Pandemie hat den Rhythmus der rund 9000 Wohnungslosen in München komplett durcheinander gebracht. Denn nicht nur warme Aufenthaltsorte sind knapp, auch die sozialen Kontakte und vor allem das Geld. Das merkt auch Jürgen Neitz. Er lebt von gesammelten Pfandflaschen. Vor Corona hat er damit sieben bis neun Euro pro Tag zusammenbekommen, heute ist er froh, wenn er Pfandflaschen im Wert von zwei Euro findet. Seit zwölf Jahren lebt er nun in München auf der Straße, meist am Lenbachplatz. Jetzt im Winter schläft er in der "Pille", wie die Obdachlosen die Unterkunft für obdachlose Männer an der Pilgersheimer Straße nennen. Seit einigen Wochen bekommt Jürgen Neitz eine karge Rente von 880 Euro, davor hat er nie Unterstützung beantragt. "Ich habe ja immer viel gearbeitet", erzählt der schlanke Mann. Unter seiner großen dunkelblauen Wollmütze blickt er aufmerksam seinen Gesprächspartner an. "Nach meinem Absturz bin ich zu keinem hingegangen."

Warme Kleidung hat er auf dem Müll gefunden

Der Absturz. Einen harten Schlag haben viele Obdachlose erlebt. Es geht oft ganz schnell: die Frau verloren, dann den Job, dann die Wohnung. Auch Jörg ist es so ergangen. Seinen Nachnamen will er nicht nennen. Auch er sitzt an diesem eisigen Vormittag im D3. Er trägt einen schwarzen Mantel, darunter einen Strickpullover, um seinen Hals windet sich ein rosa Schal und unter seinen langen Beinen blitzen braune Lederschuhe hervor. Seine blond-grauen Haare sind frisch gewaschen und zu einem Mittelscheitel gekämmt. Doch er sieht abgekämpft aus, tiefe Augenringe ziehen sich durch sein hageres Gesicht. Seit vielen Jahren habe er Schlafstörungen, schlafe selten mehr als drei Stunden, sagt er. Die Nächte verbringe er dabei meistens an S-Bahn-Stationen. Übernachtungsräume für Obdachlose meidet Jörg, zu groß sei die Geruchsbelästigung und die Angst vor Gewalt. Jörg artikuliert sich sehr überlegt, benutzt Wörter wie "Habitus" und erzählt von seinem Kunstpädagogik-Studium, das er in den 1980er Jahren abgeschlossen hat. "Außerordentliche Schicksalsschläge" hätten ihn aus der Bahn geworfen, mehr will er nicht erzählen.

Bei Jürgen Neitz war es die Frau, die ihn nach unten gezogen hat, nachdem sie ihn betrogen hatte. Er war zuvor Binnenfischer auf der Müritz, konnte ein Schiff steuern wie kaum ein anderer. Das war sein Leben. "Ich wollte einfach frei sein, wollte draußen sein, ich wollte Fischer werden", sagt er heute. Er war auch sechs Jahre lang Verkehrspolizist in Mecklenburg-Vorpommern, trainierte im Radsportclub der Polizei Jugendliche im Rennradfahren. Als er bei der Polizei schließlich aufhören musste, durfte er auch nicht mehr mit den Jugendlichen trainieren. "Dabei habe ich einige Preise eingefahren", erzählt er stolz.

Aber es ging nicht mehr weiter. Er ließ alles hinter sich, Mecklenburg-Vorpommern, einen Sohn, zu dem er keinen Kontakt mehr hat, Freunde, Bekannte in seiner alten Heimat Waren. "Ich wollte nur weg und nirgends ankommen", sagt Jürgen Neitz. Schließlich kam er doch in München an. Und hier hat er sich einen strengen Tagesrhythmus angewöhnt. Morgens um fünf Uhr steht Jürgen Neitz im Männerwohnheim auf, er zieht sich seine warmen Sachen an, die er alle aus dem Müll hat und die trotzdem sehr gepflegt aussehen. Dann geht es los auf die Straße. Unterwegs einen heißen Tee trinken, dann geht es langsam über die Isar in Richtung D 3. Schlange stehen, aufwärmen, dann wieder los, rüber zu Sankt Bonifaz. Dort gibt es bis 11 Uhr etwas Warmes zu essen. Wegen der Pandemie dürfen sich die Bedürftigen aber nicht mehr im Haus aufhalten. An diesem Tag kommt Jürgen Neitz drei Minuten zu spät. "Macht nichts", sagt er und grüßt den Hausmeister von Sankt Bonifaz: "Moin Kalle!" Jürgen Neitz zieht weiter, die nächste Möglichkeit, sich aufzuwärmen, ist im Hauptbahnhof. Dort holt er sich einen Kaffee mit viel Zucker. "Gerade wenn es kalt ist, brauchen die Leute viel Zucker", sagt eine Helferin der Bahnhofsmission.

Draußen in der Bayerstraße hat sich eine Schlange gebildet. Die Korbinian-Küche der Caritas bietet täglich von 12 bis 17 Uhr warme Suppe, Brot, Kaffee und Kuchen an. Was die Wartenden hier eint, ist der Hunger. Lena Bauer, Referentin der Caritas für soziale Projekte, erzählt, dass nicht nur Obdachlose kommen. "Immer mehr Menschen wie du und ich kommen hierher", sagt sie. "Offensichtlich sind viele Menschen in die Armut abgerutscht in letzter Zeit." Die Essensausgabe versorgt derzeit täglich bis zu 500 Menschen, oft muss sie früher als geplant schließen, weil das Essen nicht für alle reicht. "Die Not übersteigt ganz klar das Angebot", sagt sie. Lena Bauer ist sich sicher, "dass die Zahl der Wohnungslosen noch massiv zunehmen wird".

Nach 21 Uhr muss die Polizei eigentlich alle verscheuchen, die Freien schlafen

Das befürchtet auch Gerhard Mayer. In der Pandemie sind viele Menschen arbeitslos geworden oder sind in Kurzarbeit. "Viele Menschen können sich die Miete nicht mehr leisten", sagt der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration im Sozialreferat. Noch sei die Situation nicht so dramatisch. "Aber ich befürchte, dass die Pandemie im Lauf des Jahres Folgen haben wird", sagt Mayer. Nach einer offiziellen Schätzung leben derzeit 550 Menschen auf der Straße, die Streetworker und andere Beobachter der sozialen Szene gehen jedoch davon aus, dass es doppelt so viele Obdachlose in München gibt. Mehr als 8000 Münchner sind wohnungslos, können aber entweder bei Bekannten oder Verwandten oder in einem Wohnheim schlafen. "Bei uns muss niemand auf der Straße schlafen", heißt es im Sozialreferat. Das Kälteschutzangebot in der Bayernkaserne kann nun im Winter ganztägig besucht werden, dort gibt es ebenso Duschen wie im D 3 und anderen sozialen Einrichtungen. Trotzdem nutzen einige Obdachlose die Übernachtungsangebote nicht. So wie Jörg. Ihm macht die Kälte mehr zu schaffen als die Corona-Beschränkungen, dennoch schläft er nachts lieber an S-Bahn-Stationen. Seitdem es so kalt ist, ist sein Alltag stark eingeschränkt. "Vorher konnte ich mich frei bewegen, frei entscheiden. Jetzt bin ich daran gebunden, mich nicht zu unterkühlen", sagt er.

Die Menschen, die im Freien schlafen wollen oder sich nicht überwinden können, einen warmen Schlafplatz aufzusuchen, müssten eigentlich von der Polizei verscheucht werden, wenn sie zur Ausgangssperre nach 21 Uhr auf der Straße erwischt werden. Aber wo sollen sie hin? "Das wird von der Polizei nicht geahndet", sagt Wohnungsamtsleiter Mayer. Wenn aber ein Obdachloser tatsächlich bei strengem Frost wie in diesen Nächten im Freien schläft, schaut ein Arzt vorbei und untersucht, ob er physisch fit genug ist und sich nicht selbst gefährdet. Immer wieder versuchen Streetworker, die Menschen davon zu überzeugen, doch im Winter in eine sichere Unterkunft zu gehen, aber viele verstecken sich vor den Sozialarbeitern. Dabei scheint selbst die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus in einer Unterkunft nicht allzu begründet. Es sei bislang in München "gelungen, die Infektionszahlen in den Unterkünften auf relativ niedrigem Stand zu halten und größere Ausbrüche zu verhindern", teilt das Sozialreferat mit. Dazu wurde von der Stadt auch ein Hostel mit 160 Bettplätzen angemietet. Darin haben die Menschen eigene Sanitäranlagen und werden über eine Cateringfirma versorgt.

Dieses Angebot braucht Jürgen Neitz nicht, er schläft ja in der "Pille". Am frühen Nachmittag läuft er zur Teestube "komm" in der Zenettistraße, unterwegs blickt er regelmäßig in Mülltonnen auf der Suche nach leeren Getränkedosen und greift in die Schlitze der Parkscheinautomaten, um eventuell vergessenes Wechselgeld zu finden. Auch vor der Teestube stehen bereits einige Menschen an. Die Wartezeit in der Kälte vertreibt er sich mit Schneeschaufeln, es dauert noch eine Stunde, bis der Aufenthaltsraum des Evangelischen Hilfswerks öffnet. "Das Dramatische ist, dass wir wissen, dass es deutlich mehr Obdachlose gibt, die die Teestube gerne in Anspruch nehmen würden, aber viele bleiben weg, weil sie es nicht aushalten, zwei Stunden zu warten", meint der Leiter der Einrichtung, Franz Herzog. Diese Menschen würden stattdessen in irgendwelchen Parks in der Kälte sitzen und ihre oftmals angeschlagene Gesundheit riskieren.

Jürgen Neitz hat seinen Tagesplan nun fast absolviert. Am späten Nachmittag geht es zurück zur "Pille". Um viertel nach acht schaut er sich noch einen Film im Fernsehraum an, dann geht es ins Bett. Schließlich will er am nächsten Morgen um fünf Uhr wieder los. Egal, wie eisig es draußen ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5175422
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.01.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.