Beginn der NS-Terrorherrschaft:Das vergessene erste Münchner Mordopfer der Nazis

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Zum 90. Todestag bringt die Stadt in der Hans-Sachs-Straße 18 ein Erinnerungszeichen für Erwin Kahn an, der von den Nazis in München ermordet wurde. (Foto: Florian Peljak)

Im April 1933 überlebt Erwin Kahn im KZ Dachau zwei Kopfschüsse. Wenig später wird er in der Uniklinik an der Nußbaumstraße erwürgt. An seinem 90. Todestag wird ein Erinnerungszeichen für ihn in der Hans-Sachs-Straße angebracht.

Von Bernd Kastner

Erwin Kahn ist vergessen. Dabei ist er das erste Münchner Opfer der Nationalsozialisten nach Hitlers Machtübernahme 1933. Es gibt kein Foto von Erwin Kahn, und bis heute sind falsche Angaben zu seinem Tod im Umlauf. Ermordet wurde er am 16. April 1933 - in der Chirurgischen Uniklinik in der Nußbaumstraße. Am Sonntag wurde ein Erinnerungszeichen an seinem letzten Wohnort angebracht.

Dass an seinem 90. Todestag in einer Veranstaltung in der Uniklinik an Erwin Kahn erinnert wird, ist Björn Mensing zu verdanken. Der Pfarrer der Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau ist promovierter Historiker, hat in Archiven recherchiert und die bisher bekannte Biografie Kahns ergänzt und korrigiert.

Erwin Kahn wird am 12. September 1900 in München geboren, seine Eltern sind jüdisch. Er arbeitet später als Kaufmann und Versicherungsvertreter. 1928 heiratet er Euphrosina Vessar, gerufen wird sie Eva. Sie wechseln in München mehrmals die Wohnung, ehe sie im November 1932 in die Hans-Sachs-Straße 18 ziehen, in den dritten Stock.

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Am 11. März 1933, wenige Wochen nach der Machtübernahme Hitlers, nimmt ein SA-Mann Kahn auf der Straße fest, vermutlich allein deshalb, weil er Jude ist. Er wird in die Ettstraße gebracht, drei Tage später nach Stadelheim, ins "Schutzhaftlager". Am 22. März wird Kahn nach Dachau verlegt, es ist der erste Tag des Konzentrationslagers.

Von dort sind drei Briefe Kahns erhalten, aus ihnen wird beim Gedenken an ihn in der Uniklinik vorgelesen. "Ich habe nur einen Wunsch, dass ich endlich einmal verhört werde", schreibt er seiner Frau. Er hofft, erklären zu können, dass seine Verhaftung ein Irrtum sei. "Ich bitte Euch", schreibt Kahn, "macht Euch nicht allzu große Sorgen um mich."

Ein Polizist im Lager verhindert den "Gnadenschuss"

Am 11. April 1933 übernehmen SS-Männer die Bewachung der KZ-Häftlinge. Was einen Tag später geschieht, ist dank der Aussagen eines Mithäftlings und der Ehefrau Kahns überliefert: Ein SS-Mann ruft die Namen dreier Häftlinge, tatsächliche oder angebliche Kommunisten jüdischer Herkunft. Auch der Name Kahn wird aufgerufen. Es meldet sich ein Mann, und wenig später ein zweiter - Erwin Kahn. Er ist kein Kommunist und offenbar gar nicht gemeint, aber der SS-Mann sagt: "Du kommst auch gleich mit." Wenige Minuten später schießen SS-Leute auf die vier Männer. Drei sind sofort tot, Erwin Kahn wird von zwei Kugeln im Kopf getroffen, überlebt aber. Ein im Lager verbliebener Polizist verhindert, dass auch Kahn der "Gnadenschuss" gegeben wird. Der Schwerverletzte wird in die Chirurgische Klinik in der Nußbaumstraße 20 gebracht.

Dort gibt es in dieser Zeit eine Krankenstation des KZ Dachau. Kahn übersteht die Operation. Am 15. April kommt seine Frau in die Klinik. Zwei Wachleute wollen sie nicht zu ihrem Mann lassen, den Besuch ermöglicht ihr dann doch ein Arzt. Der äußert sich recht optimistisch zum Zustand von Erwin Kahn. Er liegt in einem vergitterten Einzelzimmer im ersten Stock, ist bei Bewusstsein und schildert seiner Frau den Tathergang. Sie sitzt mehrere Stunden allein am Bett ihres Mannes, so erinnert sie sich 1953 in einer Zeugenvernehmung vor dem Münchner Landgericht.

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Am 16. April, es ist der Ostersonntag, wird sie informiert, dass ihr Mann in der Nacht gestorben sei. Ursache sind aber nicht die Folgen der Schüsse, wie eine Obduktion ergibt, sondern "stumpfe Gewalt gegen den Kehlkopf". Pfarrer Mensing sagt, er habe den Obduktionsbericht von einem Gerichtsmediziner analysieren lassen. Offenbar haben die Wachleute von SA oder SS den unliebsamen Zeugen Kahn erwürgt.

Seine Frau sucht einen Staatsanwalt auf und berichtet ihm. Er sei "sehr nett" gewesen und bestimmt "kein Nazi", sagt sie. Aber er habe ihr geraten, nichts weiter zu unternehmen, da sonst auch sie womöglich verhaftet werde. Die Morde vom 12. und 16. April 1933 bleiben ungesühnt, auch nach 1945. Der einzige sicher identifizierte Täter ist im Krieg gefallen.

Pfarrer Björn Mensing und Stadtrat Beppo Brem (rechts) bringen das Erinnerungszeichen am Wohnhaus in der Hans-Sachs-Straße an. (Foto: Florian Peljak)

Obwohl bereits vor Jahren ein Wissenschaftler der Uni Siegen Details zu Erwin Kahn publizierte, sagt Mensing, halte sich bis heute die irrige Angabe, Kahn sei an den Schussverletzungen gestorben. Selbst auf seinem Grabstein auf dem Alten Israelitischen Friedhof an der Thalkirchner Straße steht "umgekommen in Dachau". Tatsächlich sei Kahn das erste Münchner NS-Mordopfer, stellt das städtische Kulturreferat fest. Björn Mensing sagt, er fühle sich verpflichtet, an vergessene NS-Opfer zu erinnern und sich wenigstens rückblickend solidarisch mit ihnen zu zeigen. Er tue dies als Pfarrer der evangelischen Kirche, deren Leitung in der NS-Frühphase zu den Verbrechen geschwiegen oder sie gar gerechtfertigt habe.

Über die Familie Kahn ist wenig bekannt. Der Vater starb in Theresienstadt, die Mutter und eine Schwester wurden in Auschwitz ermordet. Der Bruder emigrierte in die USA. Eva Kahn heiratete 1936 ein zweites Mal. Pfarrer Mensing hofft, dass sich Angehörige melden, um noch mehr zum Leben der Familie rekonstruieren zu können.

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