NS-Vergangenheit:"Nur den Mut nicht verlieren"

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"Wie sieht die Stadt aus!", schreibt der niederländische Zwangsarbeiter Jan Bazuin am 22. Januar 1945 in sein Tagebuch, nachdem er stundenlang durch München laufen musste. "Rotterdam ist verglichen mit den Trümmern von München wie ein Tropfen zum Ozean." Illustration von Barbara Yelin/Verlag C.H. Beck (Foto: Illustration von Barbara Yelin)

Das Tagebuch des niederländischen Jugendlichen Jan Bazuin ist ein einzigartiges Zeugnis seiner Zeit als Zwangsarbeiter in Bayern 1945. Im NS-Dokumentationszentrum wird der Band mit Zeichnungen Barbara Yelins nun vorgestellt.

Von Antje Weber, München

"Heute kaum etwas Besonderes", so harmlos fängt das Tagebuch Jan Bazuins an. Er schreibt im November 1944 in sein neues Heft, dass seine Familie Kartoffelmarken bekommen hat, dass sie heimlich einen Baum auf der Straße fällen, um ihn zu verheizen und dass es nur bis halb sieben Uhr Strom gibt. "Also noch früher zu Bett. Wie schön, da werden wir richtig ausgeschlafen sein."

So harmlos ist das alles natürlich doch nicht. Es sind Schilderungen aus dem Kriegsalltag im von den Deutschen besetzten Rotterdam, geprägt von Hunger, Kälte, Ängsten vor dem nächsten Fliegeralarm. Doch der 19-jährige Jan Bazuin versucht, mit Humor und später bitterem Sarkasmus, sich selbst immer wieder aufzurichten: "Nur den Mut nicht verlieren." Mut und Zuversicht wird er dringend benötigen: Anfang Januar 1945 wird der Jugendliche von den Nationalsozialisten als Zwangsarbeiter nach Bayern verschleppt.

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Sein Tagebuch dieser Monate, das soeben mit Illustrationen der Münchner Zeichnerin Barbara Yelin erschienen ist und nun im NS-Dokumentationszentrum München vorgestellt wird, ist ein einzigartiges Zeugnis. Ein "Glücksfund", so jubiliert denn auch Paul-Moritz Rabe im Nachwort des Buches; der Historiker leitet die wissenschaftliche Abteilung des NS-Dokuzentrums sowie des Erinnerungsorts, der auf dem Gelände des ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlagers Neuaubing entsteht und im virtuellen Projekt "Departure Neuaubing" bereits Gestalt annimmt - genau hier landete einst nach ersten Tagen im Durchgangslager Dachau-Rothschwaige und in Freimann auch Jan Bazuin.

Als sich die Güter- und Viehwaggons nach mehr als drei Tagen Fahrt in Dachau öffnen, kriechen völlig entkräftete Menschen auf den Bahnsteig. (Foto: Illustration von Barbara Yelin)

Wie es dazu kommt, beschreibt Bazuin in einer schnörkellos klaren, jugendlich direkten Sprache - die Erschütterungen seines Welt- und Menschenbildes sind ihm dabei anzumerken und übertragen sich unmittelbar auf die Leser. Denn die Lage spitzt sich bald zu, zunächst in Rotterdam, wo sich die schwierige Situation in Auseinandersetzungen mit der Familie entlädt. Schließlich wird Bazuin, der einer ersten Razzia entgangen war, für den Arbeitseinsatz in Deutschland zwangsverpflichtet. Und muss sogleich eine Höllenfahrt in eiskalten Vieh- und Güterwaggons überstehen, mehr als 75 Stunden eingepfercht, ohne etwas zu trinken, fast ohne Essen. Mitten in der Nacht fährt der Zug am 13. Januar endlich im Bahnhof Dachau ein. "Die Zugtüren öffnen sich, und ein Häufchen Elend nach dem anderen kommt, durchgefroren und hungrig, ins Freie gekrochen, um sich einen geschützten Platz zu suchen. Männer mit erfrorenen Beinen und Füßen. Jungen, die vor lauter Elend ohnmächtig geworden sind. Baumlange Kerle, die kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen. Wie sollte es auch anders sein."

Ja, es sollte offensichtlich genau so sein beim Zwangsarbeiter-System der Nazis, das auf maximale Ausbeutung ausgerichtet war, ohne Rücksicht auf menschliche Verluste. Während des Zweiten Weltkriegs setzten sie insgesamt rund 13,5 Millionen Zwangsarbeiter ein, darunter 8,4 Millionen sogenannte Zivilarbeiter, wie Rabe schreibt. Sie wurden in allen Teilen Europas zwangsrekrutiert, insbesondere in Osteuropa. Die mehr als 500 000 Niederländer - darunter acht Prozent Frauen - bildeten die fünftgrößte Gruppe nach Russen, Polen, Franzosen und Italienern. Für die Westeuropäer galten dabei "bessere Rahmenbedingungen als für Osteuropäer oder für die als Verräter stigmatisierten italienischen Kriegsgefangenen".

Besser heißt allerdings nicht gut. Die entkräfteten Neuankömmlinge bekommen im Januar 1945 auch im Durchgangslager Dachau wenig zu essen ("Hunger, Hunger, Hunger und nochmals Hunger"), frieren bei heftigen Minusgraden in klammen Baracken und müssen zwischendurch trotz Sturm stundenlang auf einem Platz stehen, "wie Vieh auf dem Markt", schreibt Jan Bazuin. "Wie lange werde ich das aushalten?" fragt sich der Jugendliche verzweifelt. "Werde ich Rotterdam jemals wiedersehen?" Und er beschwört sich selbst: "Nur nicht dran denken."

Jan Bazuin im Kreise von polnischen und französischen Zwangsarbeitern, die ihm sogar eine Zigarette anbieten - ein rares Gut. Illustration von Barbara Yelin/Verlag C. H. Beck (Foto: Illustration von Barbara Yelin)

Als der Jugendliche schließlich nach Freimann und später Neuaubing verlegt wird - und dabei entgeistert das in Trümmern liegende München durchquert -, wird seine Lage etwas einfacher. Jan Bazuin gelingt es, zeitweise in der Küche zu arbeiten und sich somit satt essen zu können, ansonsten muss er Schnee und Müll wegschaufeln oder Chlorkalk sieben. Er freundet sich mit anderen Arbeitern an und hat im Frühjahr sogar etwas Freizeit, die er für Kino-Besuche und Ausflüge nutzt. Doch die Lage bleibt angespannt, Bazuin berichtet von ständigen Diebstählen im Lager, von Selbstmord, immer bedrohlicherem Bombenhagel. Verzweifelt wagt der Jugendliche schließlich die Flucht - ein Mut, der ihn vielleicht vor dem Tode rettet.

Dass seine Aufzeichnungen, die am 22. April 1945 abbrechen, heute noch so anschaulich wirken, liegt nicht nur an der Kraft seiner Sprache - sondern zusätzlich an der Kraft der Bilder. Natürlich ist die Foto-Lage in solchen Fällen dünn, Bilder aus dem Alltag der Zwangsarbeiter gibt es wenige. Barbara Yelin hat sich daher für ihre Zeichnungen zum Teil an allgemeineren historischen Fotos orientiert, zum Teil die Leerstellen behutsam gefüllt und sogar kleine Dialoge in Sprechblasen ergänzt. Das funktioniert sehr gut, da sie einzelnen Szenen einerseits mit kräftigen Strichen Kontur gibt, andererseits der Imagination noch genügend Raum lässt.

Stärker geführt wird diese in einer App, die von Paintbucket Games auf Grundlage des Tagebuchs und der Illustrationen entwickelt wurde: "Forced Abroad" heißt die Visual Novel, die gezielt Jugendliche ansprechen soll. Wenn man da durch die Geschichte klickt und wischt, geraten nicht nur Details von Yelins Bildern in Bewegung. Es tauchen auch hinzuerfundene Figuren und Situationen auf, und immer wieder kann der Nutzer entscheiden, wie er sich in einer Szene verhalten würde. Wer zuvor das authentische Tagebuch gelesen hat, wird vom freien Umgang mit den Aufzeichnungen vielleicht etwas irritiert sein. Nun denn, es ist ein Spiel.

Diesen "Beschäftigungsausweis" erhielt Jan Bazuin im März 1945 von der Deutschen Reichsbahn. (Foto: Privatbesitz Leon Bazuin/Verlag C.H. Beck)

In Jan Bazuins weiterem Leben jedenfalls scheint der Ernst das Spiel überwogen zu haben. Zeitlebens hielt er sein Tagebuch versteckt und verschwieg seine Erlebnisse; sein Sohn Leon entdeckte die Aufzeichnungen erst 2001 nach dem Tod des Vaters. Denn wie in anderen Ländern begegnete man in den Niederlanden den ehemaligen Zwangsarbeitern mit Misstrauen - hatten sie vielleicht doch freiwillig mit dem Feind kollaboriert? Dieses Schweigen wirkt heute wie eine doppelte Strafe, die Menschen auferlegt wurde, die nichts verbrochen hatten. Einem Jugendlichen wie Jan Bazuin zum Beispiel, der am 11. April 1945 in sein Tagebuch schrieb: "Wenn einer niemals zuvor Angst hatte, dann lernt er in Deutschland das Fürchten."

Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters (C.H. Beck, 160 Seiten). Buchpräsentation am Mittwoch, 23. Februar, 19 Uhr, NS-Dokuzentrum, Live und Stream, ns-dokuzentrum-muenchen.de

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