Geschichte in München:Das Geheimnis der Sphinx-Skulpturen am Nordfriedhof

Historische Sphinx-Replik vor Altem Nordfriedhof in München, 2019

Im Juli 2019 wurde die erste Sphinx-Replik aus Kalkstein vor dem Nordfriedhof enthüllt. Das Interesse der Münchner war groß, auch ein Jahr später, als die Steinmetz-Schüler die zweite Statue fertiggestellt hatten.

(Foto: Robert Haas)

In den Sechzigerjahren verschwanden zwei der steinernen Fabelwesen vom Eingangsportal. Ein neues Buch folgt ihren Spuren, auch in die Literatur- und Kunstgeschichte. Rätselhaft bleibt ihr Schicksal noch heute.

Von Stefan Mühleisen

Wenn Sphingen verschwinden, ihr Schicksal rätselhaft bleibt, dann erfüllen die Fabelwesen genau genommen ihre Bestimmung. Denn die Sphinx gilt in der Kulturgeschichte klassischerweise als Ikone des Geheimnisvollen, eine Erscheinung, die Rätsel aufgibt (und diejenigen erwürgt und frisst, die sie nicht lösen können). Insofern war es angemessen mysteriös, dass die beiden Sphinx-Figuren vom Münchner Nordfriedhof Mitte der Sechzigerjahre aus dem Stadtbild verschwanden - sowie weitgehend aus dem Stadtgedächtnis. Lange interessierte sich kaum jemand dafür, das Rätsel zu lösen.

Erst als ihre Wiederkehr in Form von Repliken nahte, nahm sich einer der Sache an - und voilà: Dirk Heißerer, Literaturwissenschaftler und Vorsitzender des Thomas-Mann-Forums München, präsentiert nun seine Ergebnisse in dem verdienstvollen Buch "Das Rätsel der Sphingen vom Nordfriedhof" (Thomas-Mann-Schriftenreihe bei Königshausen & Neumann). Sein Fazit: "Dieses Rätsel beruht allem Anschein nach auf bürokratischer Willkür und lässt sich verhältnismäßig leicht lösen."

Es ist respektabel, dass Heißerer dieses "allem Anschein nach" einschiebt, denn wasserdicht gelöst ist das Rätsel qua dürftiger Quellenlage nicht, im Dunkeln bleibt ohnehin, wo die Steinfiguren abgeblieben sind - doch ein Rest an Rätselhaftem macht die Sphingen nur noch interessanter. Jedermann kann sie jetzt wieder vor dem Eingangsportal des Nordfriedhofs betrachten, nicht die Originale, aber originalgetreue Repliken, herausgemeißelt von Steinmetz-Schülern aus jeweils 2,3 Tonnen schweren Kalksteinblöcken. Die Rückkehr der fabelhaften Mischwesen mit Hahnenkopf und Löwenkörper an ihren historischen Standort war einer der Höhepunkte zum Jubiläum "200 Jahre kommunales Friedhofs- und Bestattungswesen", welches die Stadt 2019 feierte. Die Öffentlichkeit konnte bei den Rekonstruktionen in einer Bauhütte am Nordfriedhof zusehen.

Von Anfang an war Heißerer begeistert von dem Projekt, denn die Zwillingsplastiken sind Figuren aus seinem Forschungsfeld: Sie haben einen Auftritt in Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig". Gleich zu Beginn steht Protagonist Gustav von Aschenbach vor der Westfassade des Nordfriedhofs und registriert zwei "apokalyptische Tiere", welche den Eingang bewachen. Seitdem zählen sie zur Ausstattung der literarischen Topografie Münchens, das Spezialgebiet Dirk Heißerers, der mit seinen Büchern die Leser an Orte führt, wo Autoren wohnten und wirkten, zudem literarische Spaziergänge anbietet.

Das Besondere an den Sphingen vom Nordfriedhof: Bis sie verschwanden, gab es sie in der Wirklichkeit und in Manns Novelle. Dann existierten sie nur noch in der Fiktion weiter - und kehrten nun in die Realität zurück. "Eine kuriose Geschichte", findet Heißerer. Doch was passierte mit den Originalen? Das ist, allem Anschein nach, seinerseits eine kuriose Geschichte.

Diese stützt sich auf einen Brief als Quelle, den der damalige Vize-Leiter des Münchner Stadtarchivs, Hellmuth Stahleder, 1997 an den Autor Ewart Reder geschrieben hat. Stahleder hatte dazu mit dem Friedhofsexperten und langjährigen Oberamtsrat Erich Scheibmayr gesprochen, dessen Erkenntnisse er wie folgt wiedergibt: Die Statuen hätten den Krieg unbeschadet überstanden, wurden aber dann "auf Anweisung eines längst verstorbenen Baurates Panitz entfernt". Die Begründung habe gelautet: "Die Scheißviecher müssen weg." Max Panitz war für die Umbauten der Münchner Friedhöfe zuständig, ein "wilder Hund" und ein "Zerstörer", wie ihn Scheibmayr beschreibt. Zumindest was die Fassadenerneuerung am Nordfriedhof angeht eine zutreffende Charakterisierung: Unter Panitz' Ägide verschwanden Reliefschmuck und Malereien, ein Frevel für Kunstliebhaber und Denkmalschützer. Stadtbaumeister Hans Grässel hatte dieses byzantinisch inspirierte Bauwerk als ausbalancierten Kunst- und Zweckbau realisiert, der schon zur Entstehungszeit als meisterhafte Monumental-Anlage galt. Panitz war das offenbar egal, "die Sphingen mussten verschwinden", urteilt Heißerer.

Sie landeten dem Archivdokument zufolge auf einem Lagerplatz - wo sie "ein junger Steinmetz aus Niederbayern" entdeckt und für "sicher nicht mehr als 500 D-Mark" erworben habe. Wer dieser Mann war, lässt sich allerdings nicht mehr recherchieren. Der "Materialverkauf" sei zwar aktenkundig geworden, die Unterlagen aber längst vernichtet, heißt es in dem Brief.

Das Buch beschränkt sich nicht auf Ermittlungsergebnisse zu den verschwundenen Statuen; es ist als wissenschaftliche Publikation angelegt, welche die kunsthistorische Bedeutung des Nordfriedhofs dokumentiert, samt Quellenteil und umfangreicher Literaturliste. So ist der Band einerseits eine unabhängige Expertise für den städtischen Denkmalschutz, der sich derzeit mit der anstehenden Restaurierung des Nordfriedhofs befasst. Andererseits ist er auch ein Kompendium für kulturgeschichtlich interessierte Laien. Die dürften etwa den Aufsatz des Kunsthistorikers Thomas Raff mit Gewinn lesen, der die vielgestaltigen Formen der Sphinx-Figuren von der Antike bis zur Gegenwart nachzeichnet. Es gab und gibt sie mit (männlichen oder weiblichen) Menschenköpfen oder mit Köpfen von Widdern, Falken, Sperbern sowie Hähnen, bekleidet oder mit nackter Brust, als exotische Park-Figuren oder als christianisierte Wächter-Monumente, die an die Sterblichkeit erinnern.

Zwei davon standen übrigens auch mal am Westfriedhof - und zumindest diese Sphingen hat Heißerer gefunden. Baurat Panitz, so ist in dem Stahleder-Brief zu lesen, hat sie der Gemeinde Oberhaching im Landkreis München verkauft - und tatsächlich: Sie bewachen dort noch heute den Eingang zur neuen Aussegnungshalle. "Im Zuge der geplanten (und dringend gebotenen) Generalsanierung des Westfriedhofs wäre es ein Leichtes, die beiden Sphingen zurückzuholen und wieder auf ihre verwaisten Podeste vor der Aussegnungshalle zu setzen", findet Heißerer.

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