Süddeutsche Zeitung

Stadt München:Mann soll Gebühren für 41 Nachbarn auslegen

Die Stadt verlangt von einem Ramersdorfer, das Entgelt für Niederschlagswasser vorzustrecken. Das Geld könne er sich dann in der Siedlung selbst zurückholen. Nun beschäftigt sich sogar der Landtag mit dem Fall.

Von Hubert Grundner

"Einer für alle, alle für einen!" Mit diesem Wahlspruch haben die drei Musketiere aus Alexandre Dumas' gleichnamigem Roman Generationen von Leserinnen und Lesern begeistert. Vielleicht ließ sich davon aber auch ein deutscher Verwaltungsbeamter beim Verfassen einer Gebührensatzung inspirieren, allerdings mit erwartbarem literarischen Ergebnis. Bei ihm kondensierte dieses Sinnbild von Edelmut und unverbrüchlicher Freundschaft zur: Gesamtschuldnerschaft. Wer nun vermutet, dass sich hinter dem Begriff unangenehme Pflichten verbergen, hat recht. Ganz konkret hat diese Erfahrung vor kurzem Matthias Schmidt machen müssen.

Der Diplom-Physiker lebt mit Frau und Kindern in der Siedlung, die Anfang der Sechzigerjahre südlich der Stethaimerstraße und nördlich der Roritzerstraße zwischen Hofangerstraße und Am Graben in Ramersdorf gebaut wurde. Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres erscheint dort ein Bote und übergibt Schmidt persönlich, da Verjährung droht, einen Bescheid der Münchner Stadtentwässerung (MSE).

Darin wird ihm mitgeteilt, dass er bis 21. Januar 2021 die für Niederschlagswasser anfallenden Gebühren zu zahlen habe, rückwirkend bis 2016. Vor allem aber: Er soll diese Gebühren auch für 41 weitere Anlieger bezahlen, deren Grundstücke, so wie sein eigenes, an einen Gemeinschaftsweg in der Siedlung angrenzen. Die an sich nicht besonders hohe Gebühr, die für Niederschlagswasser anfällt, summiert sich auf die Weise dann doch auf 2093 Euro.

Eine Erklärung, warum und nach welchen Kriterien gerade er ausgewählt wurde, erhält Schmidt nicht: Von der MSE habe er keine Informationen bekommen, nur den Bescheid mit der Kontostandsinformation und ein standardisiertes Merkblatt zur Erhebung der Niederschlagswassergebühr. "Wie ich an mein Geld komme, steht da nicht drin. Die Stadt lässt einen in diesem Fall komplett alleine", kritisiert Schmidt. Sein Unmut ist verständlich, schließlich kennt er nicht alle anderen 41 Anlieger.

Ganz zu schweigen von der Frage, wie er deren Anteile an den Gebühren eintreiben soll oder was er machen kann, wenn jemand sich weigert zu bezahlen. Da ihm also "das ganze Procedere, vorsichtig ausgedrückt, sehr befremdlich vorkommt" und er als Vater von vier Kindern im Alter von eins bis acht Jahren die Übertragung dieser Aufgabe als nicht geringe finanzielle Belastung empfindet, legt er Widerspruch gegen den Bescheid ein.

Bis darüber entschieden ist, setzt daraufhin die MSE die Zahlungsfrist für die Niederschlagswassergebühr tatsächlich aus. Doch weil er nicht weiß, wie die Prüfung ausgeht, und er wenig Hoffnung auf ein Entgegenkommen der Stadt setzt, wendet sich Matthias Schmidt im Februar mit einer Petition (Aktenzeichen KI.0378.18) an den bayerischen Landtag. Sein konkretes Anliegen: "(1) Bitte um ein von Anfang an transparentes, gerechtes Verfahren, das Härten vermeidet; (2) Die Bitte, dass vorrangig die zuständigen Behörden sich um die Angelegenheit kümmern und nicht einzelnen Bürgern hier aufwendige Aufgaben aufgebürdet werden; insbesondere da die Behörde im konkreten Fall Zugriff auf alle relevanten Daten besitzt ..."

Zweifel an der geübten Praxis, einen Schuldner für alle Schuldner heranzuziehen, scheint zu diesem Zeitpunkt bei der MSE niemand zu haben. Im Gegenteil, der städtische Eigenbetrieb teilt Schmidt am 8. Februar mit: "Das Rechtsinstitut der Gesamtschuldnerschaft ist im Gebührenrecht üblich und wurde mehrfach sowohl von der Regierung von Oberbayern bestätigt, als auch gerichtlich überprüft und für rechtmäßig erklärt.

Wendung nach drei Monaten

Auch der Stadtrat der Landeshauptstadt München hat diese Vorgehensweise in der Vergangenheit explizit bestätigt. (...) Eine Aufteilung der Niederschlagswassergebühr auf die einzelnen Miteigentümer*innen würde - auch im Hinblick auf die zahlreichen vergleichbaren Fälle im Stadtgebiet - zu unverhältnismäßig hohen Verwaltungskosten führen, die dann auf alle Gebührenschuldner*innen der Landeshauptstadt München umgelegt werden müssten." Seinen "Unmut über die - von außen betrachtet - nicht immer logische Vorgehensweise der Gebührenveranlagung" könne man nachvollziehen, hoffe aber auf sein Verständnis, dass man ihm "im Hinblick auf die Gesamtheit der Gebührenzahler*innen nicht entgegenkommen" könne. Im Klartext: Matthias Schmidt soll bezahlen.

Mitte März dann ergibt sich plötzlich eine Wendung: Der Physiker erhält einen Brief von der Regierung von Oberbayern (ROB). Darin wird ihm mitgeteilt, dass sie den Fall geprüft habe und zu der Einschätzung komme, dass der Bescheid der Münchner Stadtentwässerung in seinem Fall "ermessensfehlerhaft" sei, und auch das bayerische Innenministerium zu dieser Auffassung gekommen sei; außerdem habe die ROB der MSE nahegelegt, den Bescheid an ihn aufzuheben, erklärt Schmidt. Die MSE habe daraufhin gegenüber der ROB zunächst um eine Fristverlängerung gebeten, da erst noch weitergehende Auswirkungen geprüft werden sollen - auf andere Fälle in der Stadt. Am 9. April zieht die MSE dann tatsächlich den Bescheid zurück - mit der Begründung, dass er für das Ehepaar und seine vier Kinder eine zu große finanzielle Härte darstellt. Matthias Schmidt und die Seinen sind - zumindest vorläufig - raus aus der städtischen "Gebührenfalle".

Für den Landtag ist die Angelegenheit aber damit keineswegs erledigt, denn: "Der Fall berührt etwas Grundsätzliches", wie Johannes Becher (Grüne) am 9. Juni in der Sitzung des Ausschusses für Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Sport anmerkt, als sich die Abgeordneten mit Matthias Schmidts Petition befassen. Becher meint damit das Vorgehen der Münchner Stadtentwässerung, die sich offenbar unter 42 Hauseigentümern nach nicht durchschaubaren Kriterien einen einzelnen als Gesamtschuldner herausgepickt habe; in der Folge müsse der Petent selber zusehen, wie er von den übrigen 41 Anliegern sein Geld bekomme.

Das könne nicht angehen. Stattdessen biete sich an, dass die MSE künftig jeden einzelnen Anlieger per Bescheid zur Bezahlung von einem Zweiundvierzigstel der Gebühr verpflichtet. Keineswegs sei der Fall damit erledigt, dass der Bescheid gegen den Petenten, also Matthias Schmidt, aufgehoben worden sei, betont Becher. Vielmehr müsse in Zukunft sichergestellt sein, dass die MSE in ähnlichen Fällen nicht erneut einen Anlieger als Gesamtschuldner herauspicke. Die MSE solle ihr Verfahren überdenken und eine Alternative in Betracht ziehen - "weil, so geht's nicht".

Matthias Enghuber (CSU) pflichtet dem Berichterstatter im Petitionsausschuss bei: "Die Stellungnahme der Münchner Stadtentwässerung ist grundfalsch." Als Gesamtschuldner könne nur eine Rechtsperson mit Vertretungsrecht für alle Eigentümer berufen werden, wozu beispielsweise eine Immobilien GbR oder eine Wohnungseigentümergemeinschaft zähle. Der zweite große Fehler aus Enghubers Sicht: "Die Stadt München versteht Verwaltungsvereinfachung offenbar so, dass es sich die Verwaltung einfach macht." Der Gesetzgeber wollte das Verwaltungshandeln aber für die Bürger einfacher, transparenter und nachvollziehbarer machen. Völlig daneben findet er auch das Argument der MSE, dass bei einer Einzelabrechnung der geringen Niederschlagswassergebühren Aufwand und Ertrag nicht mehr zu rechtfertigen seien. Dann solle die Stadt doch überlegen, so Enghuber, ob sie nicht gleich ganz darauf verzichtet. In seiner Heimatstadt würden jedenfalls Gebühren unter 1,50 Euro nicht mehr bescheidet.

Sollte die Stadt trotz der genannten Kritik im juristischen Sinne richtig gehandelt haben, wäre es "an uns als Abgeordnete, das zu überprüfen und vielleicht das kommunale Abgabengesetz an der Stelle anzupassen", regt Enghuber an. Am Ende beschließt der Petitionsausschuss, die Eingabe von Matthias Schmidt der Staatsregierung zu übermitteln. Verbunden ist damit die Bitte, sich diesen Fall genau anzuschauen und juristisch zu prüfen, ob an der Stelle nachgeschärft werden muss, und dem Landtag entsprechend zu berichten. Vielleicht macht es sich die Stadt ja zu einfach, wenn sie kurzerhand einen Anlieger bestimmt, der für alle anderen die "Zeche" zahlen soll.

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Quelle:
SZ vom 15.07.2021/vewo, van
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