Süddeutsche Zeitung

Wohnen:Neuperlach soll fit für die Zukunft werden

Das Viertel ist in die Jahre gekommen - doch viele Bewohner wissen es sehr zu schätzen. Jetzt können sie dabei helfen, Vorschläge für die Sanierung des Stadtteils zu entwickeln.

Von Hubert Grundner

Es gibt Anekdoten, die sind so gut, dass es fast egal ist, ob sie stimmen. Eine geht so: Es wird vermutet, dass der Grundstein, der vor mehr als 50 Jahren beim Baubeginn für die Entlastungsstadt Neuperlach gelegt wurde, irgendwo unter dem Life Einkaufszentrum vergraben liegt. Eine Vermutung ist das, weil man heute nicht genau weiß, wo Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel im Mai 1967 das gute Stück auf damals noch freiem Feld versenkt hat. Mit dieser Geschichte, die Stadtteilmanager Florian Mayr im Schatten des Schanzenhauses seinen rund 15 Zuhörern erzählt, weckt er große Heiterkeit, vermischt mit Staunen und Unglauben. Doch, doch, beteuert Mayr, das stimme, er habe sich extra in der Stadtverwaltung erkundigt.

Aber egal, wo auch immer sich der Grundstein verbergen mag: Neuperlach hat sich trotz dieser Ungewissheit und trotz vieler Vorurteile inzwischen zu einem Stadtbezirksteil entwickelt, den viele seiner rund 55 000 Einwohnerinnen und Einwohner überaus schätzen. Nicht von ungefähr behaupten die Architekten Andreas Hild und Andreas Müsseler bereits im Titel ihres Buches über das Quartier: "Neuperlach ist schön". Wobei neben der architektonischen Leistung mindestens ebenso sehr die dahinter stehende gesellschaftliche Vision und die damals vorhandene Gestaltungskraft gemeint sind.

Dennoch bleibt festzustellen, dass Neuperlach in die Jahre gekommen ist. So hat der Stadtrat bereits 2016 die Sanierung des Stadtteils beschlossen. Schwerpunkte der Förderung werden demnach die energetische Sanierung der Wohngebäude, die Verbesserung der Wohnsituation durch Aktivierung der Freiflächen, die Ergänzung der sozialen Infrastruktur sowie die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum sein. In einem vom Planungsreferat herausgegebenen Info-Heftchen heißt es dazu: "Entscheidend für den Erfolg der Stadterneuerung ist die Mitwirkung der Akteure vor Ort. Deshalb wird in Neuperlach schon während der vorbereitenden Untersuchungen ein mobiles Quartiersmanagement eingerichtet."

Das ist inzwischen geschehen, seit 2019 sind Christoph Heidenhain, Florian Mayr und Katharina Waschau von der Münchner Gesellschaft für Stadterneuerung (MGS) als Stadtteilmanager für Neuperlach zuständig. Zwar haben sie noch kein festes Büro bezogen, mit einem Infomobil sind sie aber immerhin seit einigen Monaten im Quartier unterwegs. Aktuell steht das Gefährt an der sogenannten Sportlerwiese im Ostpark.

Ein Rundgang durch Neuperlach, zu dem die MGS eingeladen hat, bietet Gelegenheit, sich über einige zentrale Ziele der Stadtsanierung zu informieren. Los geht's beim Brunnen am Theodor-Heuss-Platz, wo sich die erste von zwei Teilnehmergruppen um 16.30 Uhr trifft. "Wir sind nicht hier, um Ihnen Neuigkeiten über Neuperlach zu erzählen", stellt Christoph Heidenhain gleich zur Begrüßung fest und fügt hinzu: "Wir stehen am Anfang eines Prozesses." Eines Prozesses, bei dem möglichst viele Neuperlacher mitwirken. Das erhoffen sich die Stadtteilmanager und die Leiterin der Stadterneuerung bei der MGS, Uta Wüst, bis vor Kurzem Bürgermeisterin in Gräfelfing.

Denn letztlich geht es um das, was Kerstin Oertel, im Planungsreferat mit der Stadtsanierung betraut, in eine Frage kleidet: "Welche Projekte braucht Neuperlach, um fit für die Zukunft zu werden?" Ein geradezu idealer Ausgangspunkt, um Antworten auf diese Frage zu suchen, scheint der Theodor-Heuss-Platz jedenfalls zu sein. Inmitten des Wohnrings gelegen, der mit bis zu 18 Stockwerken die höchsten Gebäude Neuperlachs aufweist, überrascht er mit wunderbarem Baumbestand und üppigem Grün. Das Attraktive am Wohnring sei, wie Florian Mayr zu Beginn des Rundgangs erklärt, dass er viele verschiedene Funktionen in dieser nach innen ausgerichteten, geschützten Lage bündele. Wohn- und Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten und Anschluss an den öffentlichen Personennahverkehr in direkter Nachbarschaft erlaubten ein fast schon autonomes Leben.

Zugleich sei hier die Trennung der Fuß- und Radwege vom Autoverkehr als Leitidee, die beim Bau Neuperlachs verfolgt wurde, idealtypisch realisiert worden. Tatsächlich laufen am Theodor-Heuss-Platz zwei Hauptachsen zusammen, auf denen man zu Fuß oder per Rad kreuzungsfrei nach Westen bis nach Perlach und nach Norden bis in den Ostpark gelangt. Allerdings war diese Planung nicht Ausdruck eines früh erwachten Umweltbewusstseins. Im Gegenteil, "Neuperlach war als autogerechte Stadt geplant", wie Mayr erklärt. Tatsächlich hielten die Planer breite Schneisen entlang von Hauptverkehrsachsen wie der Ständlerstraße zunächst frei, weil man dachte, dass diese einmal zu Stadtautobahnen ausgebaut würden.

Da sich diese fragwürdige Vision mobilen Lebens zerschlagen hat, kann man nun über alternative Nutzungen solcher Brachflächen diskutieren. Gunda Wolf-Tinapp regte beispielsweise an, neben der Ständlerstraße einen Radschnellweg und/oder eine Trambahnlinie einzurichten. Ein Mann hingegen wäre schon mit "Streuobstwiesen" zufrieden, während ein anderer zu bedenken gab, ob man nicht an einer eh schon lauten Straße gezielt andere laute Einrichtungen ansiedeln sollte. Und natürlich wird in Zusammenhang mit solchen von Straßen eingehegten und oft nicht genutzten Flächen über Nachverdichtungsprojekte zu sprechen sein, um Wohnraum zu schaffen. Denn wie Mayr sagte: "Auch in Neuperlach finden inzwischen Verdrängungsprozesse statt." Gerade ältere Bewohner würden befürchten, diesen zum Opfer zu fallen.

Bei anderen groß dimensionierten, aber eher wenig befahrenen Straßen wie dem Adenauerring könnte auch ein Rückbau diskutiert werden. Je nach Lage ließen sich vielleicht bestehende Plätze und Grünflächen ausweiten oder Fuß- und Radwege anlegen. An gleicher Stelle macht Mayr die Mitmarschierer dann noch auf eine andere Art der Nachnutzung aufmerksam, die dem Stadtviertel noch Probleme bereiten könnte: Der Versicherungsriese Allianz gibt seinen Standort am Adenauerring auf, laut Mayr wird das Gebäude abgerissen. Und was in der Nachfolge geplant ist, weiß man offenbar nicht. Welches Gewerbe will, kann oder muss man in Neuperlach halten beziehungsweise ansiedeln, wäre somit eine weitere entscheidende Frage, derer sich die Stadtsanierer annehmen müssen.

Gleiches gilt für die sogenannten Unterzentren, von denen die meisten nur noch vor sich hinsiechen - falls ihnen nicht schon das Totenglöckchen geläutet hat. Das Quiddezentrum beispielsweise soll, so Mayr, Ende des Jahres abgerissen werden. Soll man sich also von der Idee der Subzentren als Einrichtungen möglichst umfassender Nahversorgung endgültig verabschieden oder muss sie neu gedacht werden?

Über solche großen Themen mit Auswirkungen auf den ganzen Stadtteil wie auch über kleinere Probleme und deren Lösung direkt vor ihrer Haustüre können und sollen sich die Neuperlacher in den kommenden Monaten den Kopf zerbrechen. Bei einem Spaziergang zum Infomobil der MGS im Ostpark können sie ja dann ihre Anregungen, Vorschläge und Kritik bei Florian Mayr und den anderen Stadtteilmanagern anbringen. Die werden aus der Summe dieser Beiträge ein "integriertes Stadtteilentwicklungskonzept" erarbeiten. Anfang 2021 soll es der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Als nächstes wäre ein Beschluss des Stadtrats zum Einsatz der Stadtsanierung gefordert, ehe dann endgültig der Startschuss fällt. Für den Sanierungsprozess werden im Anschluss zehn bis 15 Jahre veranschlagt.

Der evangelische Pfarrer Klaus Gruzlewski begrüßt im Übrigen nachdrücklich, dass die Stadt schon vor Beginn eines so großen und wichtigen Projekts versucht, die Bürgerinnen und Bürger mit ins Boot zu holen. Wobei auch seine Kirche im Stadtteil mit Problemen zu kämpfen hat: Von ursprünglich fünf evangelischen Gemeindezentren in Neuperlach existierten heute nur noch zwei, erklärt er. Gruzlewski ist es gewohnt, als Pfarrer alle paar Jahre seinen Einsatzort zu wechseln. Unter anderem lebte und arbeitete er mehrere Jahre lang an der Münchner Freiheit, "das war toll", erinnert er sich an diese Zeit. In Neuperlach machte er dann offenbar eine überraschende Erfahrung: "Hier kann man noch atmen", erzählt der Pfarrer der Lätarekirche, lacht und fügt hinzu: "Ich bin mittlerweile ein echter Fan von Neuperlach geworden." Davon sollte es mehr geben.

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SZ vom 25.08.2020/kafe
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