Im Märchen "Dornröschen" geht es um eine schöne Prinzessin. Der Geschichte zufolge muss sie hundert Jahre lang schlafen, erst dann gelingt es einem Prinzen, sie wachzuküssen. Der Rest: ein Happy End. Bevor man sich aber Oberbürgermeister Dieter Reiter als schlafende Schöne im Wald namens München vorstellt und die Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron als Prinzen, muss man jenen Menschen Respekt zollen, die 2004 im Münchner Hochhausstreit für ein zwar retardierendes, letztlich aber erhellendes Moment gesorgt haben.
Damals fanden 50,8 Prozent der abstimmenden Stadtgesellschaft, dass künftige Bauwerke auf die Höhe der Frauenkirche zu begrenzen seien. Auf hundert Meter. Rechtlich gebunden ist man an einen solchen Entscheid ein Jahr lang. Doch erst jetzt, 15 Jahre später, bietet sich eine Chance, mit dem nun vorgestellten Plan für das Paketposthallenareal München aus dem Dämmerschlaf zu befreien. So richtig es war, sich in einer Zeit des Zauderns darüber klar zu werden, was die Stadt wirklich braucht, so richtig ist es jetzt, den Bann infrage zu stellen.
Zwei Türme neben der alten Paketposthalle,...
...die den Münchner Westen überragen und ein ganzes neues Viertel prägen,...
...welches hier farblich herausgehoben ist.
So sehen die Pläne der Architekten aus. Simulationen und Grafik: Herzog & de Meuron; Hervorhebung: SZ-Grafik
Die enorme architektonische und stadträumlich wirksame Qualität des Entwurfs könnte München aus jenem Innehalten führen, das andernfalls vom berechtigten Einspruch zum floskelhaften Dagegensein erstarrt. Zwei je 155 Meter aufstrebende Hochbauten sind es, skulptural sich verjüngend, die dem so kühnen wie sorgfältigen Entwurf eine weit ausstrahlende Zeichenhaftigkeit verleihen. In einem Mix von Wohn-, Gewerbe- und Büroraum bereichern sie den Standort. Zugleich betonen sie flankierend die atemberaubende Raumschöpfung der Paketposthalle. Diese Halle, die nie zugänglich war für die Öffentlichkeit, würde als suggestiver Raum kultureller Nutzung zum Geschenk an die Münchner werden.
Zwei Fehler, die fast alle neuen Stadtviertel in München (und auch im Rest Deutschlands) seit Jahren machen, vermeidet der Plan: Erstens beleben die Gestalter die Erdgeschosszone des neuen Quartiers und machen daraus mit Sozialräumen, Gewerbemöglichkeiten und Gastronomie einen öffentlichen Raum. Zweitens verdichten sie das Quartier mit dem geschickt proportionierten und diversifizierten Wohnraum darüber auf überzeugende Weise. So könnte ein Stadtteil entstehen, der zugleich zeitgenössisch urban ist - und doch die Qualitäten gewachsener Stadttraditionen besitzt.
Nie war der Zeitpunkt dafür günstiger. Nach einer Umfrage im März hat sich die öffentliche Meinung in München gedreht. Allein von 2018 bis 2019 stieg der Anteil der Menschen, die sich außerhalb der Altstadt ein die 100-Meter-Marke überragendes Hochhaus vorstellen können, um sieben Prozentpunkte; der Anteil der Gegner schrumpft stetig und beträgt nur noch 42 Prozent. Zugleich hat sich das politische München zuletzt aufgeschlossen für notwendige Schritte in die Zukunft gezeigt. Stadtbaurätin Elisabeth Merk, OB Dieter Reiter und engagierte Stadträte können jetzt aus der langen Zeit eines stadträumlichen Reifeprozesses Nutzen für die Allgemeinheit schlagen.
Herzog und de Meuron sind den Münchnern durch die "Fünf Höfe" und die Fußballarena gut bekannt. Sie sind die richtigen Architekten für die Neuinterpretation der Paketposthalle, die zusammen mit zwei passgenauen Hochbauten in der Struktur eines umsichtigen Städtebaus zu einem überfälligen Schritt in die Zukunft der Stadt werden kann. Nach langem Schlaf regt sich München. Jetzt hat die Stadt, die einmal der Inbegriff stadträumlicher und architektonischer Innovationskraft war, die Kraft, sich selbst im eigenen Geiste neu zu erfinden.