Neubaugebiet:Streitfall SEM: Wo der Widerstand wohnt

Protest gegen Neubaupläne am Stadtrand von München, 2019

Der Protest gegen die Neubaupläne am Stadtrand sind groß. Am 21. Februar findet eine Diskussionsveranstaltung statt.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Das neue Viertel im Nordosten von München soll einmal Heimat für bis zu 30 000 Menschen werden. Der Widerstand in Daglfing ist groß. Anwohner fürchten um ihr dörfliches Idyll, Bauern bangen um ihre Zukunft. Ein Besuch.

Von Sebastian Krass

Vom Gasthaus "Zur Post" sind es nur ein paar Schritte die Kunihohstraße hinauf, vorbei am Maibaum und einem verfallenden Bauernhof rechts und der Dorfkirche mit Friedhof links, dann ist man auf dem Land. Straßen werden zu Wegen. Sie führen durch Felder, manche sind gesäumt von Pappeln oder Hecken. Wenn es wärmer ist, singen hier Feldlerchen und Schwalben, Laubfrösche quaken, Zauneidechsen sonnen sich. Schwer zu glauben, dass das hier auch München ist, die Stadt, die so schnell wächst, dass ihren Bewohnern oft die Luft weg bleibt.

Daniela Vogt liebt dieses Idyll. Seit 18 Jahren lebt sie in Daglfing, mit ihrem Mann und zwei Kindern, 17 und 20 Jahre alt. "Herzuziehen, das war die beste Entscheidung meines Lebens", sagt Vogt. Sie steht am Ortsrand und schaut auf die Äcker. Hier, sagt sie, könnten in einigen Jahren Häuser stehen, vielleicht sogar Hochhäuser, ein neuer Stadtteil im Münchner Nordosten. Was empfindet sie, wenn sie sich das vorstellt? Vogt hält ein paar Sekunden inne, dann sagt sie: "Das macht mich ein bisschen wütend."

Die 52-Jährige gehört zu den Initiatoren des Bündnisses Nordost; es artikuliert den Widerstand von Anwohnern gegen einen solchen Stadtteil östlich von Daglfing, Johanneskirchen und Englschalking; auch das dafür vorgesehene Instrument der Städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme (SEM) lehnen sie ab.

Am Donnerstag lädt das Bündnis zu einer Diskussion in die Neue Theaterfabrik mit den Chefs der Stadtratsfraktionen von CSU, SPD und Grünen. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) hingegen hat die Einladung ausgeschlagen. Er erwarte keine sachliche Debatte, ließ er verlauten. Das Bündnis wirft ihm fehlende Dialogbereitschaft vor. Man könnte versucht sein, das als kleinkariertes Hickhack zwischen Politik und aufgeregten Bürgern abzutun. Aber dahinter stecken große Fragen, die die ganze Stadt bewegen: Wie sehr kann München wachsen? Wo kommt bezahlbarer Wohnraum her, was muss dafür weichen? Und wie geht die Politik mit dem immer besser organisierten Widerstand von Bürgern um?

Als Totalverweigerer wäre man ein leichter Gegnger

Das Bündnis Nordost achtet darauf, nicht als Totalverweigerer aufzutreten - dann wären sie ein leichterer Gegner für die Politik. Man wolle "Mitsprache, was hier herkommt. Denn wenn das hier bebaut ist, ist es weg", sagt Vogt. "Wir wissen, dass man auch im Nordosten Wohnungen bauen muss, aber es muss begrenzt sein. Und es muss organisch wachsen, nicht aus dem Boden gestampft werden." Sie nennt eine Schmerzgrenze: "10 000 Menschen - wenn die Infrastruktur dafür steht." Damit meint sie vor allem die Verkehrsanbindung: eine U-Bahn oder eine Untertunnelung der S-Bahnstrecke Richtung Flughafen. Alles Projekte, die noch mindestens 20 Jahre brauchen.

10 000 neue Einwohner sind nach dem bisherigen Flächennutzungsplan für den Nordosten möglich. Getrieben vom rasanten Wachstum peilte das Planungsreferat für einen städtebaulichen Ideenwettbewerb, den nächsten Schritt auf dem Weg zu einer SEM, 30 000 Einwohner an. Vor eineinhalb Wochen beschloss der Stadtrat schließlich nahezu einstimmig, dass Varianten für 10 000, 20 000 und 30 000 Einwohner entwickelt werden sollen. Gut möglich, dass daraus am Ende ein politischer Kompromiss entsteht. Und ob dann tatsächlich Hochhäuser am Ortsrand von Daglfing gebaut werden, wie Vogt befürchtet, das kann noch niemand seriös sagen.

Es wird auch davon abhängen, wie sich die Bauern verhalten, Leute wie Johann Oberfranz und das Ehepaar Maria und Thomas Eberl, die auf Münchner Stadtgebiet mit Landwirtschaft den Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen, wie es schon ihre Ahnen getan haben. Zehn Höfe seien es noch im Nordosten, acht davon Vollerwerbsbetriebe, sagt Johann Oberfranz. Sein denkmalgeschützter Hof liegt direkt gegenüber dem Daglfinger Maibau; Oberfranz sitzt gebeugt am Küchentisch. Sein Kampfgeist ist gerade erlahmt. Den nahezu einstimmigen Stadtratsbeschluss für den Ideenwettbewerb empfindet er als "Schlag ins Gesicht", wie er sagt. Die SEM "wird nicht zu verhindern sein".

Für ihn ist die SEM gleichbedeutend mit dem Damoklesschwert von Enteignungen. Sie sind bei diesem Planungsinstrument für große Siedlungsgebiete als Ultima Ratio vorgesehen, wenn Grundstückseigentümer partout nicht verkaufen wollen und damit das ganze Projekt gefährden. Allerdings haben sowohl OB Reiter als auch die Spitzen der Stadtrats-CSU Enteignungen ausgeschlossen. Man wolle sich mit den Eigentümern der Grundstücke, die man brauche, auf einen Preis einigen.

Oberfranz glaubt das nicht: "Wenn die nicht enteignen wollen, brauchen sie keine SEM-Satzung. Ich glaube, dass die Druck aufbauen wollen." Seit der Einleitung des SEM-Verfahrens sind die Preise eingefroren - allerdings nur für die Flächen, die am Ende auch tatsächlich zur SEM gehören werden. Und das wird nur ein Teil jener 600 Hektar sein, die derzeit untersucht werden. Deshalb ist das ganze Gebiet zu Spekulationsgrund geworden. Investoren kaufen auf Verdacht: Könnte ja sein, dass das Grundstück am Ende doch nicht zum SEM-Gebiet gehört und dann viel wertvoller wird oder dass die SEM abgeblasen wird.

Johann Oberfranz, 43, baut auf seinem Hof Gerste für Münchner Brauereien an, auch Soja für die Tierfütterung. 60 Hektar Grundbesitz hat er, 20 davon liegen im SEM-Gebiet. Er habe bisher nichts verkauft, sagt er, "und ich will auch künftig nichts verkaufen. Wir sind keine Spekulanten." Ihn halten sie bei der Stadt für glaubwürdig, anders als manch andere Bauern, die nur die Preise hochtreiben wollten, wie öfter zu hören ist.

Verhärtete Fronten und ein drohender Aufstand

Was Oberfranz nicht versteht: dass sich jahrelang keiner gemeldet habe. Das SEM-Untersuchungsgebiet wurde 2011 ausgerufen, das erste offizielle Gespräch mit der Verwaltung habe es 2017 gegeben. "Warum hat man nicht erst die Eigentümer gefragt, wer sich vorstellen kann zu verkaufen?", fragt Oberfranz. Er vermutet, dass die im Raum stehende SEM dazu dienen solle, "dass der eine oder andere irgendwann aufgibt und sein Land hergibt". Auch wenn er gerade müde ist, es ist nicht davon auszugehen, dass Oberfranz den Kampf aufgibt. Er ist schließlich das Gesicht von "Heimatboden" im Nordosten.

Ursprünglich hatte sich die Initiative formiert, um eine geplante SEM in Feldmoching zu verhindern. Mit Erfolg. Danach begann "Heimatboden", auch im Nordosten zu trommeln: Sie kündigt an, bis zum Europäischen Gerichtshof gegen die SEM zu klagen. Der Bauernverband droht im Schulterschluss mit einem landesweiten Aufstand und setzt die Stadtrats-CSU, die die SEM bisher mitträgt, unter Druck. Der manchmal krawallige Ton von "Heimatboden" ist in Oberfranz' Küche nicht zu hören. "Wir haben hier noch eine Insel", sagt er. Die will er bewahren.

Er setzt sich ins Auto zu einer kleinen Fahrt durchs potenzielle SEM-Gebiet. Er erzählt von den Fahrradausflüglern, die hier im Sommer scharenweise auf Landpartie sind. Und von der Landschaftspflege: "Wir Bauern schneiden die Hecken und Bäume zurück - ohne dass das einer bezahlt. Und wir halten mit der Landwirtschaft freiwillig sechs bis zehn Meter Abstand zu den Bächen, für die Bodenbrüter und die Bienen." Oberfranz biegt auf den Wiesheu-Hof ab. Den übernehmen Maria und Thomas Eberl langsam von der Elterngeneration. 60 Rinder, 50 Mutterschafe und 200 Legehennen gehören dazu, einen Hofladen gibt es auch.

"Bei uns können Kinder aus der Stadt einmal sehen, wie es ist auf einem Bauernhof", erzählt Maria Eberl, 30. Ihr Mann, der ein Jahr älter ist, sagt: "Wir würden gern auf Bio-Standards umstellen. Da bräuchten wir andere Stallungen mit Auslauf- und Weideflächen. Aber es ist schwer, so etwas gerade anzugehen, wir wissen ja nicht, wie es weitergeht mit der Landwirtschaft hier." Wenn man sie fragt nach den vielen Bauern, die mit Landverkauf sehr reich geworden sind, dann werden die Eberls ärgerlich: Ja, ja, das hörten sie auch immer wieder. "Wir wollen nichts, auch kein Geld", sagt Maria Eberl. "Wir haben Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf. Und wir gehen jeden Tag gern zu unserer Arbeit."

Die Fronten sind hart zwischen Politik und Verwaltung auf der einen Seite und den Menschen im Nordosten auf der anderen Seite. OB Reiter kündigt an: Wenn im Sommer erste Zwischenergebnisse des Wettbewerbs vorliegen, über die man sprechen könne, werde er kommen. Er wird um Vertrauen werben müssen. Und das wird schwierig. Für Maria Eberl ist klar: "Solange das Druckmittel SEM im Raum steht, kann es kein Vertrauen geben."

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Bei einer Diskussionsveranstaltung zur SEM Nordost Ende Februar 2019 kritisieren viele Bürger die Pläne der Stadt München.

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